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Wirtschaft: Geb. 1952

Paul Arne Schleif

Man sah ihm an, wie es ihm ging. Freude, Schmerz, Enttäuschung – alles pur.

Mit Geld konnte er so wenig anfangen, dass er kein eigenes Portemonnaie brauchte. Zu abstrakt. Was Macht und Ruhm bedeuten, hätte er nicht erklären können. Das Streben danach spielte in seinem Leben keine Rolle. Und über seinen eigenen Tod hat er nie laut nachgedacht. Ob er wusste, dass er einmal sterben würde?

Der Satz, dass man eigentlich nie weiß, wie es in dem anderen Menschen aussieht, schien für Paul Arne Schleif nicht zu gelten. Wollte man Begeisterung definieren, müsste man nur sein Gesicht zeigen. Freude, Schmerz, Enttäuschung, alles pur. In seiner Jugend schwärmte er für Dagmar Koller. Sie war so wunderbar blond, so österreichisch-fröhlich, sie war die „Königin einer Nacht“ in dem gleichnamigen Operettenfilm, den Paul Arnes Vater, der Regisseur, gedreht hatte. Manchmal kam Dagmar Koller zu Besuch in die Villa der Schleifs in Zehlendorf, saß am großen Esstisch, umgeben von anderen berühmten Gästen, und lächelte ihm zu, während er sie voll Bewunderung anstarrte. Ich habe Sehnsuchtsschmerzen, sagte er später zu seiner Schwester.

Er liebte es, Arzt zu spielen, Kommissar oder Zirkusdirektor, manchmal auch noch mit Anfang 20. Dann stellte er sich in die Mitte des Raums, und seine Schwester und ihre Freunde waren die Elefanten, die in der vorgestellten Manege nach seinem Kommando im Kreis traben mussten.

Paul Arne Schleif blieb viel länger als andere Menschen ein Kind, zum Schluss alterte er im Zeitraffer und starb an Alzheimer. In jeder seiner Körperzellen befand sich ein zusätzliches Chromosom. Er hatte das Down- Syndrom.

Paul Arne Schleif brauchte andere Menschen, um leben zu können. Aber wer braucht die nicht? Er konnte lesen, schreiben, er hatte ein Talent, öffentliche Reden zu halten. Nicht auf Kommando oder Verabredung, sondern wenn er es wollte. Er fuhr jeden Tag zur Arbeit bei Zeiss-Ikon, mit dem Bus, genauso wie zum Arzt und zu seinem Friseur in Charlottenburg. Er ließ sich das Programm des SFB zuschicken und notierte die Termine von Musik-Sendungen, die ihn besonders interessierten. Er versäumte keine Übertragung aus Bayreuth. Wagner, was sonst? Gefühle waren nun mal seine Welt.

Seine Mutter war ihm beim Busfahren das erste Jahr unauffällig mit dem Auto gefolgt, bis sie sicher war, dass er seine Wege durchs Leben auch ohne sie fand. Es ging ausgezeichnet. Bis er eines Tages nach der Arbeit nicht nach Hause kam.

Es war schon dunkel, als die Polizei anrief. Paul Arne war an diesem Tag im Bus sitzen geblieben, einfach weitergefahren bis zur amerikanischen Siedlung an der Argentinischen Allee und hatte sich zu den grillenden Familien auf dem Rasen zwischen den Häusern gesellt. Er hatte einen schönen Tag verbracht. Seine Mutter war durch die Hölle gegangen.

Einer wie er ändert das Leben von anderen Menschen von Grund auf. Es gibt Sorgen einer neuen Größenordung und auch Gefühle. Bedingungslose Gefühle, wie sie sonst selten vorkommen. Für die Mutter war er der Mittelpunkt ihrer Existenz. Die Sorge, was nach ihrem Tod aus ihm werden würde, begleitete ihr Leben. Seine Schwester hielt sich immer in seiner Nähe auf, bereit einzuspringen. Auch die Haushälterin Ella, die eigentlich doch heiraten wollte, blieb ihr ganzes Leben lieber bei Paul Arne, für den sie schon als Kind immer eine Extraportion Pudding in der Speisekammer aufbewahrt hatte.

Als er einmal unbedingt den Rosenmontagszug im Fernsehen sehen wollte, rief er seine Chefin an und klagte in überzeugend leidendem Ton über Kreislaufbeschwerden – und durfte zu Hause bleiben. Auch seine Schwester hatte er überzeugt. Kurze Zeit später rief er ihr vergnügt zu: „Ich begrüße mein Schwesterherz mit einem dreifachen Helau!“ Er hatte schon vergessen, dass er weiter den Kranken mimen müsste.

Er konnte sich einfach nicht verstellen, nicht länger als fünf Minuten. Er konnte sich und anderen nichts vormachen, sich nicht in Lebenslügen verstricken. Sein Inneres hatte er nicht unter einem dicken Egopanzer versteckt. Er trug seine Seele über der Haut und im Gesicht, ungeschützt.

Vielleicht können wir vorsichtigen Menschen, die wir nicht so sind wie er, nur jemanden wie ihn vollkommen und bedingungslos lieben. Paul Arne Schleif hat in seinem 50-jährigen Leben niemanden enttäuscht, betrogen oder verlassen. Wer kann das schon von sich sagen? Kirsten Wenzel

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