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Wirtschaft: Geb. 1955

Barbara Hartlöhner

Keine Angst, Mama, ich schaffe das schon. Es ist nur so eine Stimmung.

Das Mädchen, das die Arme zu Flügeln ausbreitet, hoch oben auf den Dünen im Wind. Urlaubsfotos aus ihrer Jugend. So stellen wir sie uns vor, unsere Barbara, an jenem Dienstag, Fastnacht. Gegen vier Uhr früh steht sie auf und macht das Bett. Sie nimmt den Tritthocker von Ikea und zieht die Wohnungstür hinter sich zu. Die Schlüssel bleiben an ihrem Platz zurück. Barfuß fährt sie hinauf in den neunten Stock. Die Nacht ist kalt. Sie stellt den Hocker vors Geländer und stellt sich auf die oberste Stufe.

Die Amsel auf dem Dach denkt nicht daran, den Schnabel zu halten, das ganze Gespräch lang. Mutter und Schwester auf der Terrasse hinterm Elternhaus: Das könnte sie sein, unsere Barbara. Sie wollte immer frei sein. „Schwatzhaft“, bekam sie ins Schulzeugnis geschrieben. Mit zwanzig sagte sie: Mama, ich hab schon so viel erlebt im Leben, es wäre gar nicht schlimm, wenn ich jetzt sterben würde.

Von dort oben ist sie gesprungen. Der Junge auf dem Spielplatz neben dem Kindergarten zeigt auf das benachbarte Hochhaus im Märkischen Viertel. Er ist fünf Jahre alt. Er spricht von seiner Erzieherin. Die Psychologin, die den Kindern beim Trauern hilft, mutet ihnen viel zu: Die Wahrheit.

Hallo Babra, ich finde es wirklich sade das du Tod bist. Aber du warst di neteste Atziren. Ich wamese Dich. Du warst die beste. – Das ist auf den Kinderzeichnungen zu lesen, die neben ihrer Urne in der Kapelle liegen.

Ihre Beliebtheit bei den Kindern machte sie nicht beliebt bei allen ihren Mitarbeiterinnen. Sie hatte einen schweren Stand als Einzelkämpferin. Sie war anders als die anderen. Ihr Umgang mit den Kindern folgte den Lehren von Maria Montessori: Hilf den Kindern, ihre Unabhängigkeit zu entfalten. Gib ihnen die Freiheit sich selbst zu finden. Im freien Ausleben, in der freien Gefühlsäußerung erwächst Selbständigkeit und Verantwortung. Erziehung ist Anleitung zum Freisein.

Der Konflikt mit anders Überzeugten war vorbestimmt. Sie war Anfeindungen ausgesetzt. Mobbing ist ein hartes Wort.

Von ihrer Wohnung aus konnte sie den Kindergarten sehen, ihre Arbeitsstätte. Mit schweren Gefühlen an manchen Tagen.

Jeden Morgen vor der Arbeit rief sie ihre Mutter an: Gestern, Mama, stand im Hochhaus gegenüber ein Mann auf dem Balkon, jenseits des Geländers. Ich habe lange mit ihm geredet. Er ist wieder rein gegangen. Bei mir sind es nur drei Stockwerke. Dann hättet Ihr mich endlich wieder bei Euch, als Pflegefall.

Sie liebte das Laufen. Berlin-Marathon, New York, Amsterdam, Rom. Ein Haufen Medaillen, viele Freunde überall in der Welt. Laufen beflügelt sowohl den Geist als auch den Körper, schrieb sie nach Hause. Plötzlicher Bandscheibenvorfall, Operation. Mit dem Laufen war es vorbei. Und vorbei war es mit der glücklichen Zeit, den vielen Reisen, den fernen Freunden. Was blieb, waren unerträgliche Schmerzen.

Sie lud zum Fasching ein, zog sich ein schwarzes Kleid an, hinten tief ausgeschnitten, und hängte sich eine Medaille um. Auf dem Rücken war ein Pfeil aufgemalt. Der Pfeil zeigte auf die Operationsnarbe. Thema der Feier: Sport ist Mord.

Keine Angst, Mama, ich schaffe das schon. Es ist nur so eine Stimmung. Ich hole mich da wieder raus aus dem dunklen Loch.

Ihren fünfundvierzigsten Geburtstag feierte sie in einer Kirche. Sie hatte eine Fotoreihe ausgelegt, ihr ganzes Leben ausgebreitet vor den anderen. Eine Unmenge Gäste. Warum so einen Aufwand, Barbara, es ist doch kein runder Geburtstag? Meinen fünfzigsten werde ich nicht feiern.

Mama, die warten da oben. Papa, Oma und all die anderen, die nicht mehr sind, warten auf mich.

Letzte Tage zu Hause. Sie ist krank geschrieben. Als Dozentin bereitet sie sich auf einen neuen Kurs vor. Die Teilnehmer kommen von weit her. Die Wohnung steht voller Kisten mit Materialien und Unterlagen. Zweimal schon hat sie den Kurs verschoben. Ein drittes Mal geht nicht. Die Schmerzen machen ihr zu schaffen. Sie kann nicht mehr schlafen, seit langem nicht mehr. Sie sagt alles ab. Sie geht zum Psychologen, bekommt eine Überweisung in die Klinik. Aber das will sie nicht.

Ein letzter Anruf bei Mutter und Schwester: Ich habe alles falsch gemacht im Leben. Alles ist zerstört. Ich sehe Fratzen. Die Ängste haben Gesichter bekommen.

Der Geliebte kommt zu spät. Er ist verheiratet. Er besitzt den zweiten Schlüssel und findet die Wohnung leer.

In ihrer Geldbörse findet man einen Zettel. Wie lange mag sie ihn schon bei sich getragen haben? Ich kann nicht so weiter leben! Verzeiht mir, bitte. Barbara.

Eckard Kipping

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