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Wirtschaft: Geb. 1956

Gabriele Füllberg

Am 11. September des letzten Jahres, es muss am frühen Nachmittag gewesen sein, da hatte es plötzlich „klack“ gemacht in ihrem Kopf. Es gab keinen Zweifel. Sie kannte sich aus mit dem Sehen, mit dem ganzen Kopf, sie war Orthoptistin.

Am 15. Juni um 20 Uhr 05 hörte sie auf zu atmen. Sie hatte alles versucht. Die Bücher waren nur ein kleiner Teil. Einführungen in die Neurochirurgie, viel Text, wenig Bilder, Querschnitte vom Gehirn. Mit Literatur dieser Art lag sie im Krankenhausbett im Benjamin Franklin Klinikum, in der Uniklinik Göttingen, studierte das eigene Schicksal zwischen Morgenwaschung und Chefarztvisite. Seite für Seite, auch wenn die Doktoren das nicht gerne sahen. Sie wusste, wie es um sie bestellt war. Man konnte ihr nichts vormachen.

Wenn sie am Ende irgendeiner der vielen Untersuchungen vor einem der vielen Ärzte saß, stellte sie immer die gleiche Frage. „Was kann ich sonst noch tun?“ Sie telefonierte jede Woche mit einem Experten in Essen und mit ihrem Bremer Cousin, dem Arzt. Sie sah jede Gesundheitssendung im Fernsehen, wartete auf neue Forschungsergebnisse, jubilierte über neue Erfolgsgeschichten zum Thema Krebs. Als die Magazine darüber berichteten, dass der Fußballspieler Heiko Herrlich den Kampf gegen die Krankheit gewonnen hatte, sagte sie zu ihrem Mann: „Siehst du? Was der kann, das schaffe ich auch.“

Am 11. September des letzten Jahres, es muss am frühen Nachmittag gewesen sein, da hatte es plötzlich „Klack“ gemacht, in ihrem Kopf. Es war kein akustisches „Klack“, es war ein optisches. Innerhalb eines Augenblicks, so hat sie es ihrem Mann beschrieben, klappte das linke Gesichtsfeld nach vorn, verengte sich um ein Viertel. Ein winziger Augenblick, und sie konnte die Menschen nicht mehr aus dem Augenwinkel sehen; nur noch riechen, wenn es ein Raucher war, wie der Patient, der am 11. September neben ihr saß, im Wartezimmer in der Klinik. Dazu ein dumpfer Schmerz im Magen.

Es gab keinen Zweifel. Sie kannte sich aus mit dem Sehen, mit dem ganzen Kopf, sie war Orthoptistin. Sie wusste, dass in ihrem Gehirn irgendwo ganz hinten auf der rechten Seite jetzt ein bösartiger Tumor wohnt.

Als erstes fuhr sie in ihre Praxis und setzte sich an das Parameter. So heißt das Gerät, mit dem das Gesichtsfeld ausgemessen wird, das wichtigste Arbeitswerkzeug der Orthoptistinnen. Orthoptistinnen führen „Sehschulen“, sie arbeiten mit Augenärzten zusammen, behandeln Schielende und Schwachsichtige. Wenn ein Boxer einen Fausthieb aufs Auge bekommen hat und danach alles doppelt sieht, kümmern sie sich darum. Sie kleben Kindern ein Auge zu, damit das andere besser zu arbeiten lernt. Denn Sehen ist Arbeit. Arbeit von sechs Muskeln, die man trainieren und, falls das Auge in die falsche Richtung will, auch umlenken kann.

Das Parameter bestätigte, was sie schon wusste. Trotzdem tat es irgendwie gut, präzise Daten zu haben. Beruhigend, etwas tun zu können, selbst jetzt. Gabriele Füllberg fuhr ins Krankenhaus, hinterließ ihrem Mann eine Nachricht auf der Mailbox. Als der im Auto hinterherfuhr, hörte er im Radio, dass in New York zwei Flugzeuge in das World Trade Center gestürzt seien. Wahrscheinlich ein Unfall. Eine verrückte Nachricht, sinnlos, zumindest in diesem Moment. Er drehte das Radio ab, war in Gedanken schon im Krankenhaus.

Die Ärzte entnahmen bei einer Biopsie Tumorgewebe aus der rechten Gehirnhälfte, direkt neben dem Sehzentrum. Der Befund: Glioblastom IV. IV bedeutet: besonders bösartig. Dass da etwas war, in ihrem Kopf, das hatte sie schon seit ein paar Jahren gewusst. Aber es war gutartig gewesen, hatte sich nicht gerührt. Die Ärzte hatten gesagt: Mit so etwas kann man hundert Jahre alt werden. Kann man. Am 11. September 2001 wurde es Glioblastom IV.

Bestrahlung, Operation, Chemo 1, Che- mo 2, Chemo 3, Chemo 4, ihr Mann hat das letzte Jahr in einer Liste festgehalten. „Hirntumor“ steht darüber. Sie hat alles versucht, sagt er. Das Ding war nicht totzukriegen. Nach der Operation hat sie in ihrem Bett gesessen und Augenübungen gemacht. Die Muskeln trainiert, damit sich das Sichtfeld wieder erweitert, Tagebuch über den Krankheitsverlauf geführt. Sie wollte gewinnen.

Die Mutter hatte es doch auch geschafft durchzukommen, als sie plötzlich mit drei Kindern allein dastand. Zehn Jahre war sie damals alt, wurde schnell zur Vize-Mama für die kleineren Geschwister. Mit 15 musste sie ihr eigenes Geld verdienen, wurde Sprechstundenhilfe beim Augenarzt, danach Orthoptistin, weil sie mit Kindern arbeiten wollte. Sie wünschte sich auch eigene, am liebsten vier Jungs. Die hätte sie gut im Griff gehabt, keine Frage, sagt ihr Mann, so energisch wie sie war. Aber es kamen keine.

Als sie nach der Operation in ihre Wohnung am Waldsee in Hermsdorf zurückkehrte, zwischen Chemo 1 und Chemo 2, suchte sie ein Foto aus den Alben heraus. Es zeigt sie mit ihrem Mann auf einem Schiff auf der Hudson Bay. Ihr Mann hat den Arm um sie gelegt, sie fröstelt lächelnd im Anorak, im Hintergrund die zwei Türme des World Trade Centers. Kühle Herbsttage in New York, Anfang der neunziger Jahre. Sie schaute sich das Foto lange an, immer wieder, als wenn sie eine Antwort finden könnte. Es geht doch immer irgendwie weiter. Selbst nach dem Schrecklichsten.

Sie verschickte das Foto als Neujahrskarte an Freunde und Bekannte, etwa 50 Mal. „Ein gesundes, neues Jahr“, schrieb sie auf die Rückseite. Ein letztes Mal die Botschaft: Ich lasse mich nicht unterkriegen. Ihr Mann sagt heute: Wir haben uns an jeden Strohhalm geklammert.

Sie hatte das Bild von der Hudson Bay auch an die SFB-Abendschau geschickt, als dort persönliche Fotos von Berlinern aus New York gesammelt wurden. Jetzt hängt es im Martin-Gropius-Bau, in der Ausstellung „Here is New York. Fotografien zum 11. September“. Man erkennt es leicht an dem SPD-Anstecker, den ihr Mann auf dem dicken Wollpullover trägt. Sie hat es dort nicht mehr gesehen. Kirsten Wenzel

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