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Wirtschaft: Geb. 1956

Christina Arnold

Ein teures Leben! Quatsch. Alles, was sie brauchte, holte sie vom Flohmarkt.

Wie sterben eigentlich Schmetterlinge? Klappen sie einfach die Flügel zu und fallen vom Himmel? Oder verlieren sie irgendwann ihre Farben und leben verschämt als Motten weiter? Oder verdammt sie ein dummer Teufel dazu, noch einmal als Wurm durch die Welt zu kriechen?

Wahrscheinlich hätte sie auch auf diese Frage eine Antwort gewusst. Christina wusste irgendwie alles, denn alles erweckte ihre Neugier. Ein Problem war für sie wie ein Zauberwürfel, den man in den Händen drehen und wenden kann, und immer wieder entdeckt man eine neue, bunte Seite.

Sie hatte Germanistik studiert und Theaterwissenschaft, veranstaltete Themen-Spaziergänge durch ihre Stadt, durch die Theaterstadt, die Villenstadt, die Industriestadt Berlin. Sie hätte auch tausend andere Jobs haben können, wenn da nicht diese Krankheit gewesen wäre.

Wie die meisten echten Berliner war sie gar nicht hier geboren, sondern hatte sich aus freien Stücken für die Stadt, für Kreuzberg entschieden. Damals, als es um den Abriss alter Häuser und die Tristesse der Sozialkäfige ging, als die Party ewig zu dauern schien. Wenn da nicht die Krankheit gewesen wäre.

Damals eroberte sich Christina ihre Rapunzelstube, ein Dachgeschoss, das sie kurzerhand um einen Balkon bereicherte, weil sie Licht brauchte, Farben. Und natürlich Musik.

Eine Riesenbegabung in allen Formen des Genießens. Sie war oft unpünktlich, sie hat oft versäumt, ihre Rechnungen zu bezahlen, aber sie hat nie vergessen, sich zu verwöhnen. Und sie hat nie vergessen zu lachen.

Das schönste Bild: Christina im Sportwagen. Unglaublich blond, Hepburn-Sonnenbrille, den Kopf nach hinten gelehnt, die knallrote Tasche neben sich, glänzenden Schmuck am Hals und natürlich extrageile Schuhe. Ihr Sortiment an Schuhen unüberschaubar: Rote, grüne, alle Formen. Ihr Lieblingsmodell: der Schwertfisch, sehr spitz, sehr orange. Die nahm sie auch mit ins Grab.

Ein teures Leben! Quatsch. Alles, was Christina brauchte, holte sie vom Flohmarkt. Bis auf den Sportwagen. Der war von dem Mann, den sie liebte. Und der anfangs gar nicht wusste, dass sie unheilbar krank war.

Mukoviszidose. Ein Gendefekt. Unaufhaltsame innerliche Verschleimung, die Lebenserwartung knapp über 40 Jahre. Dann der Tod durch Ersticken.

Das sah man ihr nicht an. So lebte sie auch nicht. Sie wollte ihre Krankheit nicht. Der frühe Tod war ihr zwar schrecklich klar, aber daraus bezog sie einen Gewinn an Lebenslust, der alles überstrahlte.

21 Jahre gemeinsames Leben. Ein bisschen haben beide immer so getan, als ob die Krankheit nicht wichtig sei. War sie ja auch nicht. Anfangs. War sie dann natürlich doch. Schon weil kein Kind je lächeln wird wie Christina.

In den letzten Jahren konnte sie kaum noch ausgehen. Sie saß in ihrer Wunderkammer, dem Rapunzelturm, und ließ sich gelegentlich von ihren Freunden entführen. Dann ging sie hin, mit ihrer Sauerstoffflasche, Atem für zwei, drei Stunden, und war ganz die alte, lebensfrohe, unglaublich einfallsreiche und warmherzige Christina.

Aber sie kam sehr schnell an ihre Grenzen – die sie inzwischen allzu gut kannte. Wie viele chronisch Kranke wurde sie zur Expertin ihres Leids. Sie protokollierte ihre Werte, glich sie ab, erstellte einen Biorhythmus des Verfalls. Und tat alles, um ihn noch ein wenig hinauszuzögern.

Gymnastik, Atemübungen, was muss man tun, um zwei gute Stunden zu haben? Zwei Liter Sauerstoff pro Minute, das reicht zum Luftholen. Klar, aber nicht das Einatmen, das Ausatmen ist das Problem. Abhusten. Das Räuspern hilft, ganz konzentriert, um die Lungen trockenzulegen. Die Ärzte helfen, die Krankengymnastin, die Psychologin, und die Sauerstoffflasche hilft, immer wieder die Sauerstoffflasche, und natürlich Zazie, die Katze, die da ist, nachts, in den Stunden, die nur noch der Krankheit gehören, weil letztlich doch keiner helfen kann.

Dann träumt man nicht mehr gern. Schläft nicht mehr gut. Schwitzen, Unruhe, und Gedankenspiele. Die Möglichkeit der Rettung: Lungentransplantation.

Sie wusste Bescheid. Sie kannte die Gefahren. Und hat die Einwilligung unterschrieben. Sie wusste, dass sie lange würde warten müssen. Lungen passen häufig nicht, sind zu klein, zu groß, sind zerrissen, weil sie von Unfallopfern stammen. Das alles wusste sie.

Dass sie bei ihrer seltenen Blutgruppe, Rhesus-Negativ, kaum Chancen hatte, das wusste sie auch. Und dass sie, als es dem Ende zuging, auf der High Urgent-Liste war. Was sie nicht wusste: Mit ihr wartete eine zweite Frau, ebenfalls Rhesus-Negativ.

Samstag, Sonntag, ihre letzten Tage. Sie konnte nicht mehr schlafen, nicht mehr liegen, sie wollte nicht mehr. Aber Christina ließ sich nicht demütigen von der Krankheit, und schon gar nicht morden, sondern machte selbst ein Ende: Sie klappte die Flügel zu und ließ sich einfach fallen. Herzstillstand.

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