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Wirtschaft: Geb. 1964

Uwe Hundertmark

Natürlich hätte er auch eine Festanstellung suchen können, aber warum den anderen die Arbeit wegnehmen, zumal sie das alle besser und zuverlässiger konnten als er.

Seine beste Nummer: Dass er immer noch nicht unter der Erde ist sondern irgendwo im Kühlhaus. Und da bleibt er, so lange sich die Ämter um die Kosten seiner Beerdigung streiten. Und so was kann ’ne kleine Ewigkeit dauern, das wusste er selbst am besten, denn Stress mit den Behörden hatte er lebenslänglich.

„Immer noch nicht unter der Erde – ich lach mich tot!“ Er hätte sich gar nicht mehr eingekriegt über den Kalauer und schon gar nicht über die Amtshilfe in Sachen Unsterblichkeit: „Tja, Schauspieler eben, so einen kriegste nie wirklich von den Brettern. Der will immer noch mal rauf auf die Bühne, wenn der Applaus stimmt.“

Aber der Applaus stimmte nicht mehr zum Schluss. Auch ein Grund, nicht mit dem Saufen aufzuhören. Seine Sprüche kamen nicht mehr so recht an. Sich grade machen, keinem anderen auf die Füße treten, niemanden abzocken, der es nicht verdient hätte – Alter, bist du von gestern?

Es war zum Haareausraufen. Irgendwann hat er das wörtlich genommen in seiner Verzweiflung: Da stand er vor dem Spiegel und riss sich die Haare raus, mit beiden Händen volle Büschel.

Er trank, natürlich, einen kleinen Ozean hat er ausgesoffen in seinem Leben, aber er spielte auch Mundharmonika, Flöte, Bongos. Und vor allem: Er hatte immer was zu erzählen. Nicht von sich, da schwieg er sich aus. Von der Zeit im Heim, das von den Adoptiveltern geführt wurde, nette Leute, die ihn einfach nicht kapierten.

Mit neun das erste Bier, mit elf in der Kneipe ausgeholfen, er wusste ja, wie man zapft. Dann immer raus aus dem Heim, rein ins Heim, raus aus der Lehrlingsanstalt, rein in die Lehrlingsanstalt. Irgendwann gaben es die Adoptiveltern auf, ihn erziehen zu wollen.

Seinen richtigen Vater kannte er nicht. Die Mutter schon, deren Namen und Adresse hatte er mal ausfindig gemacht. Er fuhr hin – und reiste wieder ab. Er hat sie sich angesehen, aber sie nicht angesprochen. Warum auch immer, vielleicht weil er keinem gern zur Last fiel.

Er war auch mal schwer verliebt, nah dran, eine Familie zu gründen. Dann starb die Frau, Motorradunfall, und mit ihr starb auch sein Kind, sie war schwanger. Sie haben ihn damals noch nicht mal aus dem Heim raus gelassen, um sie im Krankenhaus zu besuchen.

Von da an war er auf Reisen, gut unterwegs in Europa, mal hier gearbeitet, mal da, aber am besten war er als Strassenkünstler und Kleingeldeintreiber. „Gott zum Gruß, stets gut zu Fuß. Ein Reisender bittet um eine rostige Wandermark.“ Und was für ein Name für einen, der schnorren muss: Hunni Hundertmark.

Natürlich hätte er auch eine Festanstellung suchen können, aber warum den anderen die Arbeit wegnehmen, zumal sie das alle besser und zuverlässiger konnten als er. Da war er gar nicht neidisch. Normalität ist ein Käfig. Sich selbst einsperren und den Schlüssel wegwerfen, so was konnte er nicht ertragen. Deswegen wollte er sich auch nicht bekehren lassen, zu nix.

Sozialarbeiter und Pfarrer, die sah er am liebsten von hinten oder gar nicht. Manchmal half er auch ein bisschen nach, dann wischte er schon mal mit dem Ellbogen zur Seite, und wenn da zufällig eine Respektsperson stand: „Oh, Herr Polizist, Entschuldigung, das mag wohl ein Versehen gewesen sein!“

Natürlich sah das der Staatsanwalt anders, sehr zum Ärger von Hunni: „Herr Richter, mir ist schon klar, warum Justitia die Augen verbunden und das Schwert erhoben hat. Sie will das Elend nicht sehen, und sie würde sich gerne die Hand abhacken, mit der sie die Waage hält!“ Für den Spruch gab es kein Honorar, sondern 800 Mark Ordnungsstrafe wegen Missachtung des Gerichts,

Ein Jahr auf der Straße zählt doppelt und dreifach. Hunni war noch keine vierzig, aber ein alter Mann. Irgendwann nach dem zweiten Schlaganfall stimmte die Motorik nicht mehr, tattrig war er, die Wärmflasche brauchte er fürs unruhige Herz, den Klapperschluck für die Nerven.

Er war nie richtig vollbreit, kein Komasäufer, immer gepflegt, saubere Klamotten, eitel war er, sah ja auch gut aus, Mongolenbart, hageres Gesicht, schöne Augen, und er hatte was sehr Charmantes. Ein Rattenfänger eben, der nie auf die dröge Tour kam, „Ejalterhassemalnemark“. Er hatte immer ein Wortspiel oder einen Spruch drauf, wenn ihm ein Gesicht gefiel sowieso, und wenn ihm eins nicht gefiel, dann erst recht.

Dass gerade er, der immer schon auf der Straße Theater gespielt hatte, dann auch noch zur richtigen Bühne kam, war auch so eine Pointe in seinem Leben. Die Volksbühne suchte für ein „total lebensnahes“ Stück „total lebensnahe“ Menschen, als Statisten natürlich. Nachdem das Stück abgesetzt war, beschloss der Statist Hunni Hundertmark, weiter Theater zu spielen. Daraus entstand die Theatergruppe „Ratten 07“, die bis heute zwei Dutzend Stücke auf die Bühne gebracht hat. Obdachlosentheater klingt nach Quotenapplaus, dabei ist es Theater im besten Sinn, dem ganz einfachen nämlich, dass da einer dem anderen was zu erzählen hat, von einer Welt, die der andere nicht kennt.

Hunni war Mephisto, er war Godot, Lear, Hamlet, und vor allem war er einer, der nie vergessen konnte, dass sich die Leute im Theater ihren Wohlstandshintern auf teuren Sitzen wärmen – während draußen Obdachlose auf der Straße erfrieren. Das brachte er gut rüber. Nur schade, dass sich nichts dran änderte. Prost!

Nüchternheit ist was schönes, für Leute die nicht links und rechts sehen können, aber nur nüchtern kriegt man das Leben schwer gebacken. Also hat er sich zu Tode gesoffen. Dafür gibt es Gründe, gute Gründe, das alte Trinkercredo eben: Ich kann gar nicht so viel trinken, wie ich kotzen möchte. Was er dabei total vergessen hat, war, dass man auf einen wie ihn nur schwer verzichten kann. Aber was soll’s, so oder so: „Schönen Schrank auch Hunni – für alles!“

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