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Wirtschaft: Geb. 1968

Jens Martin Kraft

Sie sieht, wie er jetzt fehlt in seinem Haus, wie alle das Unfassbare ins Leben einzubauen haben.

So wird es weitergehen in diesen Tagen: Immer wieder werden Leute auf sie zukommen und sagen: „Das wird schon“ oder „Das Leben geht weiter“. Sie werden es gut meinen, natürlich, genau wie neulich einer, der in diesem ganzen Beerdigungs- und Schmerz-Wirrwarr zu ihr meinte: „Du siehst aber gut aus.“ Wie ein Vorwurf klang das in ihren Ohren, eine Mutter in Trauer und gut aussehend – wie geht so was?

Alle werden versuchen, alles richtig zu machen, sie weiß das. Mehr aber hilft ihr in diesen Tagen, im Garten etwas anzupflanzen, etwas wachsen zu sehen. Oder dieses Buch zu lesen, „Keine Zeit zum Abschiednehmen“. Da hat sie Sätze gefunden, die ihre Gefühle wiedergeben, Sätze wie: „Die Seele hat keine Haut mehr.“ Das hat geholfen, sehr.

Hildegard Lubig-Kraft aus Bonn hat ihren Sohn verloren. Jens, ihren Großen, er lebte in Berlin. Er starb an einem Mittwoch im März, endlich befreit von Maschinen und Schläuchen, die für ihn atmeten und aßen. Jens Martin Kraft lag im Koma. Blinddarm-Diagnose, Operation, perforierter Dünndarm, Morbus-Crohn-Verdacht, Sepsis, Herzstillstand, Intensivstation – die Geschichte seines Todes ist eine schnelle Geschichte, eine, die nur wenige Tage brauchte, um eine Familie zu erschüttern und sie ganz neu zusammenzuschweißen. Noch nie waren sie sich so nah, noch nie haben sie sich so gebraucht wie in diesen Tagen am Klinikbett. War ja alles gut vorher, das Leben, optimistisch und gelungen. „Jetzt erst weiß ich“, sagt Frau Lubig-Kraft, „wie nah sich meine Söhne wirklich waren, und dass sie so oft telefonierten.“ Gestaunt hat sie über ihren Jüngsten, wie er ohne ein Zögern im Krankenhaus zum Waschlappen griff und seinen großen Bruder wusch. Dessen vergehenden Leib. Sie selbst hat mit dem Jüngeren in diesen Tagen, da sie in Berlin war, in einem Zimmer geschlafen – „das gab es seit 30 Jahren nicht“. Noch eine andere Sache ist klarer geworden: „Was für eine Liebe das war“, die zwischen Sabine und Jens, der Schwiegertochter und dem großen Sohn. Seit zehn Jahren waren sie zusammen, 24 Stunden am Tag, beider Gebiet waren Computer und Medizintechnik, sie arbeiteten in derselben Firma. Zwei Söhne hatte Sabine in die Beziehung mitgebracht, die sind jetzt, da der Ziehvater Jens mit 34 Jahren starb, 16 und 21.

Jens Martin Kraft war immer ein Besorgter, das Wohl der anderen hatte Vorrang. So sagen seine Leute, so heißt es in der Trauerrede für den Toten: „Um die Kinder hat Jens sich rührend gekümmert, so wie es ihm möglich war. Er kannte die Lebensmittelpreise auswendig, er wusch die Wäsche, und wie selbstverständlich übte er mit den Kindern den Schulweg ein.“ Auch seine Mutter sieht einen frühzeitig Erwachsenen: „Der Junge hat sich reingekniet, in Verantwortung, in Verpflichtungen.“ Das kannte er aus Kindertagen. Die Eltern ließen sich früh scheiden.

„Er war nie leicht.“ Auch das sagt seine Mutter. „Auch wenn man Blödsinn mit ihm machen konnte.“ Schwer tat er sich, zur Mutter „Hildegard“ zu sagen, wie alle anderen, in seinen E-Mails schrieb er immer „Mutti“.

Sie sieht, wie er jetzt fehlt in seinem Haus in Zehlendorf, wie alle das Unfassbare ins eigene Leben einbauen müssen. Und dann noch diese Zweifel, die da manchmal brüten. Haben die Ärzte alles gut gemacht? Wär’ Jens mit seinem Motorrad verunglückt, dann wär’ die Sache klar, doch anderen Menschen ausgeliefert – da bleibt ein Misstrauen. Warum hieß es erst, es sei der Blinddarm und wurde dann viel schlimmer? Sepsis, Ödem, CT – ganz selbstverständlich streut Frau Lubig-Kraft Fachwörter in ihr Erzählen ein, es klingt nicht antrainiert. Recherchiert hat sie, eine selbstbewusste Angehörige wollte sie sein, eine die mitbestimmt. Ihr Sohn war da ein Beispiel. Noch bevor er ins Krankenhaus fuhr, fahndete er nach Absicherung für seine Freundin, die im Mai seine Frau werden sollte. Er misstraute Ärzten. Ein Patiententestament fand er im Internet, und drei Ausrufezeichen setzte er hinter den Passus „keine lebensverlängernden Maßnahmen“. Seine Organe sollten selbst entscheiden.

Das taten sie dann auch. Doch vorher hielt die Technik ihn am Leben. Noch Tage nach Jens’ Tod schreckte Frau Lubig-Kraft zusammen, wenn irgendwo ein Handy schrillte. Auch ihr Sohn im Sterben hatte immer losgepiept, wenn sie ihn berührte auf der Intensivstation. All diese Apparate in und an ihm.

„Am Anfang“, sagt Frau Lubig-Kraft, „da konnte ich kaum einen alten Menschen sehen.“ Zu ungerecht erschien es ihr, dass der noch lebte und ihr Sohn nicht mehr. Wär’ nicht erst ihre Mutter, jetzt schon 90, und dann sie selbst dran gewesen? „Eine Ordnung war gestört, schmerzhaft durcheinander gebracht.“

Trost ist, finden Freunde und Familie, dass Jens nun nicht mehr bangen muss. „Seine Sorge um die Unsicherheiten des Lebens sind nicht mehr begründet.“

Judka Strittmatter

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