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Wirtschaft: Geb. 1981

Anne Hegel

Anne Hegel

Anne, 23 Jahre. Ein Wunschkind, quirlig, liebenswert. Ein Dickkopf manchmal, aber gut erträglich. Und immer da für andere. Du musst nach Haus? Ich fahr dich! Du brauchst Hilfe mit den Taschen? Warte! Sozial war sie, im besten Wortsinn, im blauen Kalender, den Mutter Elke immer wieder aufschlägt und liebevoll die Hand drauflegt, da steht es schwarz auf weiß: Matze nach Hause fahren, Claudia von der Arbeit abholen. Blut gab sie regelmäßig ab, über Organspende dachte sie nach. Und wie war das mit René, dem Klassenkameraden? Schwer leukämiekrank und im Klinikum für fast ein Jahr. Sie besuchte ihn, als Einzige, zweimal die Woche, zum Kartenspielen und zum Quatschen. Obwohl ihr vieles eigentlich nicht passte – seine Ansichten, seine Musik. Heute ist René gesund, er ist geheilt.

Und hat, wie alle anderen, keine Worte, Erklärungen schon gar nicht. Wie soll man sich beruhigen, es begreifen? Warum hat hier das Schicksal zugepackt, so grausam, unnachgiebig? Alte Menschen sterben, das ist klar. Doch Anne, warum Anne?

Zu junges, gutes Leben, von allen Fotos lachend: Anne im Schnee, Anne mit Cousin Willi auf dem Arm, Anne hinterm Tresen in der Schweiz. Ein Kellnerjob und gar nicht lustig, wenn der Pegel stieg. Aber wieder so ein „Ich-helf-anderen-Ding“: Eine Freundin wollte raus aus dem Vertrag, Anne sprang ein, fuhr nach Graubünden, zog drei Monate die Sache durch.

Sie war der Antityp, sagt ihre Freundin Kirsten. Immer mit Hitze, neugierig und ungestüm. Weit weg von diesen aufgetussten Girlies, die nur das sein wollen: dünn und Superstar. Sie hatte andere Träume, ganz unhip, das war einer: Lehrerin wollte sie werden, Deutsch und Geschichte. Gut und richtig fühlte sich das an, vor allem nach der ersten Probestunde. In Potsdam gab sie die, alles lief bestens, Anne kassierte großes Lob, fuhr glücklich heim. Und sang wahrscheinlich wieder – falsch und laut. Die Freunde frotzelten deswegen immer wieder, Anne warnte: Wartet ab! Auch singen können war ein Traum.

Ein Bücherregal noch einer. Im Flur sollte das eines Tages bei ihr stehen, damit Besucher sehen können, dass sie liest. Hesse, Isabel Allende. Die Liebe war ihr wichtig, doch die ließ auf sich warten. Ein Freund, das war Anne klar, der müsse so und so sein, gern auch ein bisschen Macho, doch mit gutem Herzen. Das große, rasende Gefühl kam nicht vorbei, und manchmal hörten ihre Freundinnen schon Deprimiertes: Ich sterb’ als alte Jungfer, sagte Anne dann, oder: Mir passiert das bestimmt nie! Dann war da eines Tages Alex, schon lange Klassenkumpel, im Urlaub kamen sie zusammen. Er war ihr „Bärchen“, für zwei Jahre. Und wenn er Sonnenbrille trug – wunderbar! Dann war auch er ein bisschen Macho.

Ein Kind war Anne, das ein jeder mochte. Auch mal Rabauke, im Schlepptau dann: den Bruder Roman. Der Kindergarten vis-à-vis der elterlichen Wohnung lockte, an einem Sonntag stiegen sie dort ein, naschten Kakaopulver und plemperten mit Wasser.

Jetzt ist sie tot, und vieles fehlt. Ihre Geräusche, ihr geniales Lachen. Zwei Haarsträhnen hat Vater Ralf gerettet, ein Stückchen Anne, irgendwie ein Lebenszeichen auch nach diesem Tod.

Eine Herzmuskelentzündung war der Grund, sagen die Ärzte, jetzt neu bei jungen Leuten. Ein Virus, den man nicht im Griff hat. Noch nicht, selbst im Berliner Herzzentrum. Alles hat man dort getan, meinen Annes Eltern, alles. Im Skiurlaub mit ihrem Bruder kam die Schwäche über Anne, in Österreich. Erst Rückenschmerzen, Schlappheit, sie schrieb auf ihren Postkarten davon. Keiner, auch nicht Anne, ahnte wirklich Böses. Sie war immer kräftig und gesund. Blond und proper, eine kleine Dampfmaschine, die mit ihren Pfunden haderte. Und ihrer Mutter immer sagte: Zum Abnehmen, Mamsi, habe ich noch immer Zeit. Das kommt schon.

Judka Strittmatter

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