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Wirtschaft: geb. 1984

Nils Kurschat

Von Andreas Austilat

Nils Kurschat

Der Journalist will von Nils wissen, wie Jugendliche so ticken. Ein halbes Jahr ist das jetzt her, Nils, ein großer 18-Jähriger mit schulterlangem Haar und runder Brille, ist sich nicht ganz sicher, ob man da bei ihm am Richtigen ist. Schon sein Musikgeschmack sei doch ein bisschen ungewöhnlich. Er mag Jazz. Klingt ein bisschen, als ob da einer erwachsen tun will. Aber das ist ein Missverständnis, eines, dem schon viele erlegen sind.

„Professor“, so haben sie Nils schon vor zehn Jahren genannt, sagt seine Mutter. Er war immer gern mit Erwachsenen zusammen, hat sie mit seinen Fragen gelöchert. „Sein Anspruchsniveau im Schulalltag ist weiterhin recht hoch“, hieß es im Zeugnis. Da war er acht, und es gab Lehrer, die seine Ansprüche ein wenig anstrengend fanden.

Nils begann, Klavier zu spielen, aber in der Schul-Bigband war kein Platz für Pianisten. Ja, wenn er Trompeter wäre. Nils lernte Trompete, jetzt brauchten sie ihn. Er hörte Miles Davis, mochte die 17 Hippies, für Herbie Hancock fuhr er zum Konzert nach Ingolstadt, schon, wegen des „Watermelon Man“. „Watermelon Man“ war sein Lied, einer Freundin brannte er eine CD mit 20 Coverversionen.

Nils war gut in der Schule, leicht hatte er es nicht. Er gehörte nicht zu den Coolen. Nils hasste coole Klamotten. Seine Sachen mussten praktisch sein. Wie die Zimmermannshosen, die so dick waren, dass seine Katze mit ihren Krallen nicht durchkam. Falls er überhaupt lange Hosen trug. Die braucht man erst unter fünf Grad, behauptete er, über fünf Grad trug er Dreiviertel-Hosen und Sandalen – nicht irgendwelche Sandalen, sondern die aus dem Trekking-Shop.

Auch zu den Sportlichen gehörte Nils nicht. Dabei ruderte er. Mit dem Fahrrad fuhr er bis nach Magdeburg oder die 220 Kilometer rund um Berlin, nur um mal zu sehen, wie lange es dauert. Aber beim Fußball, da wollten sie ihn nicht in ihrer Mannschaft haben.

Erwachsene, von denen er etwas lernen konnte, gab es irgendwann nicht mehr so viele. Jedenfalls nicht auf den Gebieten, die ihm wichtig waren. Und die anderen, die in seinem Alter? „Wir wussten, dass der mehr drauf hat als wir“, sagt ein Freund über ihn.

Nils kannte sich nicht nur mit Herbie Hancock aus, er konnte auch eine halbe Stunde über Fahrräder sprechen, mindestens, über Alu-Felgen oder den optimalen Luftdruck, das richtige Verhältnis von Grip und Rollwiderstand. Noch länger konnte er über Computer reden. Mit elf hat er zum ersten Mal einen Rechner aufgeschraubt. Computerspiele interessierten ihn nicht. Nils machte das Layout für die Schülerzeitung, er kümmerte sich um die Tontechnik der Bigband. Er kümmerte sich darum, dass ihre CDs erst gebrannt, später, weil das nicht professionell genug ist, gepresst werden. Wenn irgendwo ein Computer nicht mehr lief, rief man ihn an. Geld verlangte er keines, aber sie haben ihn trotzdem bezahlt. Für einen Schüler verdiente er gut. Wofür er das Geld ausgab? Fürs Fahrrad natürlich, für seinen Computer, für seine neue Trompete, nach der er ewig suchte. Und für Gummibärchen, die er immer dabei hatte.

Noch mal das Interview vor einem halben Jahr. Der Journalist fragt, ob Nils sich vorstellen kann, was er in zehn Jahren mal machen werde? Tontechnik vielleicht, hat er ja schon oft gemacht. Aber als Tontechniker ist man doch auch der letzte Arsch, der erste, der da ist, um aufzubauen, der letzte, der am Ende einpackt. Oder irgendwas in der Computerbranche? In einem Wettbewerb für Webdesign hat er den zweiten Platz belegt. Nein, wenn er sich diese Nerds angucke, diese Technikstreber, die sind doch viel zu einseitig. „Ich komm’ schon ins Straucheln, wenn ich mir überlege, was kommt“, sagt er. Aber er habe ja noch Zeit, drei, vier Jahre bestimmt. Jetzt kommt erstmal der Zivildienst.

Auf der Abifahrt im Juni ließ er sich die langen Haare abschneiden. Nie hätte er das vorher zugelassen. Weil sie ihn wegen seiner Haare immer aufgezogen haben. Hätte er sie abgeschnitten, hätte er ja klein beigegeben. Jetzt spielte das keine Rolle mehr. Sie habe überhaupt das Gefühl, dass Nils lockerer geworden sei, sagt eine Freundin. Vielleicht weil er inzwischen wusste, dass sie ihn brauchen. Sie haben es ihm auf der Abifeier ja gesagt: Nils, wie sollen wir ohne dich auskommen? In der Bigband? Im Computerraum?

Donnerstag, 6. November, halb drei. Nils sitzt am Computer und chattet. Er will ein Netzwerk installieren und sucht nach Leuten, die ihm Tipps geben. Er war immer ein Nachtarbeiter, kam morgens nie aus dem Bett. Um zehn muss er im Cafe Blisse sein, 20 Minuten vorher fährt er los. Er kommt nur 200 Meter weit. Auf der Friedenauer Brücke biegt ein Lastwagen zur Stadtautobahn ein und erfasst den Radfahrer. Nils stirbt noch auf der Straße. Bis heute liegen dort Blumen auf dem Bürgersteig, werden Briefe abgelegt. „Nils, 19, R.I.P.“, rest in peace, hat jemand auf eine Mauer gesprayt.

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