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Wirtschaft: Gegen den Strich

Marcel Fratzscher ist seit einem Jahr Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung – eine Zwischenbilanz.

Berlin - Wie ein Star seiner Zunft kommt er nicht eben daher, mit der sanften Stimme, den weichen Gesichtszügen, dem uneitlen Auftreten. „Es ist gut, bescheiden zu sein“, sagt Marcel Fratzscher und lächelt zurückhaltend. Um sein erstes Jahr an der Spitze des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) macht der 43-Jährige nicht viel Aufheben. „Enorm viel gelernt“ habe er in dieser Zeit, lässt er wissen, und dass er Berlin „fantastisch“ findet.

Dabei hätte der Mann allen Grund für ein selbstbewussteres Auftreten. Das DIW ist wieder wer im Chor der deutschen Forschungsinstitute. Nachdem es lange Zeit vor allem mit sich selbst beschäftigt war, hat es zuletzt Einfluss in der politischen Debatte gewonnen wie lange nicht mehr. Der Grund ist vor allem der neue Chef. „Er macht das hervorragend“, jubiliert Bert Rürup, DIW-Kuratoriumschef und ehemals oberster Wirtschaftsweiser.

Fratzschers Bilanz kann sich sehen lassen: Erst wurde das DIW wieder in den Kreis der Häuser aufgenommen, die für die Regierung das Frühjahrs- und das Herbstgutachten schreiben. Dieser prestigeträchtige Auftrag war 2007 verloren gegangen. Und im Ranking der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ über die einflussreichsten Institute des Landes überflügelte das DIW alle Konkurrenten. In den Kreis der zehn wichtigsten Ökonomen schafften es gleich drei Forscher aus Berlin: Fratzscher, sein Vorgänger Gert Wagner und Energie-Expertin Claudia Kemfert. Der Präsident gewann einen weiteren Titel: Das „Handelsblatt“ kürte ihn zum „Ökonomen des Jahres“. Er sei zur „zentralen Figur in der deutschen Diskussion über die gesamtwirtschaftliche Politik geworden“, lobte Ökonomen-Altmeister Carl-Christian von Weizsäcker.

Dass der Wiederaufstieg des Hauses an der Mohrenstraße so schnell gelingen würde, war nicht unbedingt zu erwarten. Bei der Europäischen Zentralbank (EZB), wo Fratzscher seit 2001 arbeitete, leitete er eine Abteilung mit nur gut 20 Wissenschaftlern. Beim DIW, der größten deutschen Wirtschafts-Denkfabrik, sind es knapp 240. Der gebürtige Bonner war zwar bekannt als forschungsstarker Ökonom mit vielen Veröffentlichungen in angesehenen Zeitschriften. In der öffentlichen Debatte um den rechten Weg in der Wirtschaftspolitik hatte er sich bis dato aber zurückgehalten, schließlich ist das die Domäne des EZB-Präsidenten.

Das hat sich gründlich geändert. Fratzscher bürstet gerne und oft gegen den Strich. Als viele euroskeptische Professoren gegen die Rettungspolitik der EZB trommelten, initiierte er im Sommer einen Aufruf, dem sich fast 250 Ökonomen aus aller Welt anschlossen. Die Kritik sei „schädlich für Europa und die Weltwirtschaft“, hieß es darin. Den omnipräsenten Hans-Werner Sinn, Chef des Münchener Ifo-Instituts, argumentierte er im Streitgespräch über die Euro-Rettung in Grund und Boden. Eine „einseitige Sicht auf die Dinge“ und einen Hang zur „Nabelschau“ der deutschen Fachleute hat er in diesen Debatten ausgemacht, moniert Fratzscher heute. „Ein breiter, offener Horizont“ könne hilfreich sein – das ist auch Koketterie mit dem eigenen Hintergrund. Fratzscher studierte in Kiel, Oxford und Harvard, arbeitete in Florenz, Washington, Manila und Jakarta.

Als sein größter Coup aber gilt, dass er die Debatte über die Investitionsschwäche Deutschlands angestoßen hat. Kurz vor der Bundestagswahl erklärte das DIW per Studie, pro Jahr würden 75 Milliarden Euro zu wenig für Infrastruktur, Maschinen und Anlagen ausgegeben. Daher rühre die Wachstumsschwäche der Bundesrepublik. Die große Koalition, ohnehin spendierfreudig, nahm es gerne zur Kenntnis und heftete sich das Projekt auf die Fahnen. „Wir haben einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass das Thema auf der Agenda ist“, freut sich der DIW-Chef. Dass er sich damit bei der Politik lieb Kind mache, weist er zurück. „Wir stehen keiner Partei nahe“, sagt er und empört sich sogar ein wenig. Tatsächlich ist Fratzscher politisch schwer zu verorten. Den gesetzlichen Mindestlohn etwa verdammt er nicht, anders als viele Kollegen – warnt aber auch vor zu hohen Erwartungen.

Auch intern hat der Ökonom einiges bewegt. Die Konjunkturforschung, einst die wichtigste Domäne des 1925 gegründeten Instituts, hat er verstärkt und viele frische Leute nach Berlin geholt. Die Bereiche Makroökonomie und Weltwirtschaft, seine Steckenpferde, baut er aus. Die alten Konflikte lässt er dagegen ruhen. „Die Zeit wird die Wunden heilen.“

Dabei hatten die Querelen um Vor-Vorgänger Klaus Zimmermann das DIW lange in den Schlagzeilen gehalten. Zimmermann hatte ab dem Jahr 2000 das einst traditionell keynesianische Haus streng auf Wissenschaftlichkeit getrimmt und nicht mehr jede Meinung zugelassen. Dazu kamen Vorwürfe über finanzielle Unregelmäßigkeiten, 2011 trat Zimmermann zurück. „Das ist schon beinahe vergessen“, sagt ein DIW-Mitarbeiter. Wohl auch deswegen pflegt Fratzscher die interne Debatte. „Es gibt keine Hausmeinung“, beteuert er. Jeder dürfe jede Ansicht vertreten, solange sie wissenschaftlichen Standards genüge.

Für sich selbst nimmt sich Fratzscher derweil nur wenig Zeit. Er gilt als Arbeitstier, ist trotz der vielen Auftritte in den Medien noch in der Forschung unterwegs. Auch am Wochenende sitzt er am Schreibtisch. „Das erste Jahr war sehr viel Arbeit.“ Jetzt soll es ruhiger werden.

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