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Schrauben auf Zeit. Viele Firmen stellen im Aufschwung Leiharbeiter ein.

© p-a / dpa

Geliehener Rekord: Arbeitsmarkt ist gespalten wie lange nicht

Die Arbeitslosenzahl sinkt bis auf Weiteres unter drei Millionen. Doch Leih- und Teilzeitarbeit nehmen zu. Die Firmen tun sich schwer, offene Stellen zu besetzen.

Berlin – Die Lobpreisungen sind verfasst, die wohlwollenden Reden längst geschrieben. Wenn Frank-Jürgen Weise, Chef der Arbeitsagentur, am Dienstag in Nürnberg gegen zehn Uhr die guten Nachrichten verkündet, werden sie hernach strahlend auf Sendung gehen: die Kanzlerin, um ihre Politik zu feiern, die Minister, um herauszustellen, dass auch sie mitgeholfen haben und die Vollbeschäftigung kommen sehen. Denn so ein Begebnis lässt sich nicht alle Tage feiern: Weniger als drei Millionen Arbeitslose haben die Statistiker im Monat Mai gezählt. Der Arbeitsmarkt ist auf dem Weg zu neuen Rekorden – einerseits. Andererseits ist er gespalten wie lange nicht. Oben stehen die Besitzer eines festen, gut bezahlten Vollzeit-Jobs. Unten müssen sich Teilzeitbeschäftigte, Leiharbeiter und gering Qualifizierte mächtig strecken, um über die Runden zu kommen.

Die Drei-Millionen-Marke ist zwar bereits im vergangenen Oktober gefallen. Im Dezember machte die Kälte den Erfolg aber wieder zunichte, seitdem stand wieder eine Drei vor dem Komma. Dieses Mal soll es anders werden: „Sogar im kommenden Winter und danach werden es weniger als drei Millionen sein“, erwartet Holger Schäfer, Arbeitsmarkt-Experte beim arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Im Herbst, von jeher die Hochzeit für Jobs, könne die Zahl sogar unter 2,6 Millionen sinken. Das wäre einsamer Rekord im vereinigten Deutschland.

Verantwortlich dafür ist der kräftige Aufschwung. „Deutschland ist entfesselt“, jubelt Uwe Angenendt, Chefökonom der BHF-Bank. Dreieinhalb Prozent Wachstum hält er dieses Jahr für möglich. Die Unternehmen investieren hemmungslos – mit dem Konsum macht dies zwei Drittel des aktuellen Wachstums aus. Der Kammerorganisation DIHK zufolge expandieren vor allem Hersteller von Spitzentechnologie. EU-weit haben nur drei Länder eine geringere Erwerbslosenquote. Der Nebeneffekt: Steuern und Sozialbeiträge fließen wie lange nicht.

Entsprechend dünnt sich die Schar der Erwerbslosen aus. Die Unternehmen tun sich immer schwerer, ihre offenen Stellen zu besetzen – im ersten Quartal waren mehr als eine Million Stellen republikweit unbesetzt. Die rund 900 000 Langzeitarbeitslosen haben dennoch schlechte Karten: Im April fanden fast doppelt so viele Kurzzeit-Joblose wie Hartz-IV-Empfänger eine neue Stelle.

Doch selbst jene, die einen Job haben, stehen oft nicht auf der Sonnenseite. Die Agenda-Reformen unter dem Druck der Globalisierung haben den Arbeitsmarkt umgekrempelt. „Der Arbeitsmarkt entwickelt sich zunehmend auseinander“, sagt Joachim Möller, Chef des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), der Denkfabrik der Arbeitsagentur. Unsicherheit, mangelnde Aufstiegschancen und miese Bezahlung prägen den Alltag von Millionen – Fachleute sprechen von „atypischer Beschäftigung“.

Beispiel Leiharbeit: Mittlerweile sind mehr als 800 000 Menschen als geliehene Kräfte tätig – 2004 waren es erst 140 000. Ein Großteil des aktuellen Jobaufbaus geht auf ihr Konto, obwohl die Bezahlung im Schnitt um ein Fünftel schlechter ist. Beispiel Minijobs: 1999 hatten nur 3,7 Millionen Bürger ausschließlich einen 400-Euro-Job, heute sind es 4,8 Millionen. Beispiel Aufstocker: Die Zahl derer, die trotz Vollzeitjob nicht von ihrer Arbeit leben können und zusätzlich Hilfe vom Staat brauchen, liegt mittlerweile bei 1,4 Millionen. Beispiel Teilzeit: Ihre Zahl hat sich in den letzten 15 Jahren auf nun 8,7 Millionen verdoppelt – unfreiwillig, denn die Hälfte von ihnen würde gerne länger arbeiten, wie eine IAB-Umfrage ergab. Die Arbeitswelt ist unsicheres Terrain geworden – jedes zweite neue Beschäftigungsverhältnis ist heute befristet, nur die Hälfte davon wird zu einem Dauer-Job. Ein höchst ungerechter Zustand, denn die Risiken der atypischen Stellen, weiß IAB-Chef Möller, „konzentrieren sich auf junge Menschen, gering Qualifizierte und Frauen“.

Die Arbeitgeber wollen von den flexiblen Beschäftigungsformen aber nicht lassen. Für die Unternehmen seien sie ein „Jobmotor“, findet Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt. Sie sicherten der Wirtschaft die nötige Beweglichkeit und seien für Arbeitslose ein Sprungbrett hin zu einem festen Job. Die Betroffenen sehen das anders: Sechs von zehn Bürgern finden, dass sich die Arbeitsbedingungen in den vergangenen fünf Jahren verschlechtert haben, wie eine Umfrage der Arbeiterwohlfahrt ergab.

Den Problemgruppen des Arbeitsmarktes wird der Staat in Zukunft aber noch weniger helfen, eine reguläre, unbefristete Stelle, möglichst in Vollzeit, zu finden. Vergangene Woche beschloss die Regierung, die Arbeitsmarktpolitik herunterzufahren. Menschen mit schlechteren Chancen bekommen nun weniger Förderung – Weiterbildung, Ein-Euro-Jobs und Eingliederungszuschüsse werden weiter verringert. Die Gewerkschaften sehen das kritisch. Gerade jetzt sei es an der Zeit, sich um die Problemgruppen am Jobmarkt zu kümmern, findet Alexander Herzog-Stein von der Hans-Böckler-Stiftung. „Die Politik sollte nicht darauf hoffen, dass sich Vollbeschäftigung von ganz allein einstellt“, mahnt er. „Wer Fachkräftemangel beklagt, sollte erst einmal das Potenzial heben, das noch in den Arbeitslosen steckt.“

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