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Wirtschaft: Gerhard Jancke

Geb. 1938

Seiner Frau sagte er, sie müsse sich nicht ängstigen. Er selbst tue es doch auch nicht. Im Radio eine Reportage über das Bild der Deutschen im Ausland. Eine junge Chinesin sagt: „Andauernd Regeln zu befolgen, das ist doch anstrengend.“

Gerhard Jancke war ein Experte für die Chinesen. Er kannte sich aus, in fachlichen wie in menschlichen Angelegenheiten. Und dass das Regelnbefolgen in Deutschland eine anstrengende Angelegenheit ist, das hat er mehr als ein Mal erfahren müssen.

Er unterrichtete an der Technischen Universität Berlin Deutsch als Fremdsprache. Für die Prüfungen mussten ausländische Studenten nach Berlin kommen, die Chinesen allerdings genossen eine Sonderregelung: Die Prüfenden kamen zu den Prüflingen. So flog Gerhard Jancke einmal im Jahr nach China, erst nach Peking, dann weiter in den Süden, nach Hangzhou, in Marco Polos Reisebeschreibungen „die schönste und großartigste Stadt der Welt“. Nach den Prüfungen nahm er sich ein Fahrrad, fuhr durch Teeplantagen, vorbei an seichten Buchten und Jadebergen, entlang dem Westsee, gesäumt von Tempeln mit konkav geschwungenen Dächern.

Die Mitarbeiter der Technischen Universität in Peking hielten ihn für einen ihrer besten Experten und verliehen ihm darum den Titel des Professors. So ein Titel jedoch bedarf in Deutschland einer ausdrücklichen Genehmigung von der Ordenskanzlei des Bundespräsidialamtes. Gutachten mussten erstellt werden. Nein, eine echte Gastprofessur war es nicht, auch Professor honoris causa durfte sich Gerhard Jancke nicht nennen. Was blieb, war eine hübsche Urkunde mit chinesischen Schriftzeichen auf seinem Bücherregal.

Am 2. Juni 1989 flog Gerhard Jancke nach Peking. Am 3. Juni fuhren Panzer über den Platz des Himmlischen Friedens. Die Deutsche Botschaft forderte ihre Bürger zur sofortigen Heimkehr auf. Gerhard Jancke betrat das Flughafengebäude und blickte auf eine unüberschaubare, müde, verschwitzte Menge. Nein, hier würde er sich nicht drängen. Also nahm er ein Taxi – der Fahrer bat ihn mit den Worten „Auf Ausländer wird nicht geschossen“ auf den Vordersitz – und fuhr zurück ins Hotel. Dort blieb er eine ganze Woche als einziger Gast. Die Chinesen freuten sich über die Entschlusskraft ihres Experten, und seine Frau Gabriele begann, sich ernsthaft Sorgen zu machen. Er versicherte, sie müsse sich nicht ängstigen. Er selbst tue es doch auch nicht.

Er griff nach seiner Kamera, setzte sich auf ein Fahrrad und streifte durch die Stadt. Fotografierte Staatsgebäude, behängt mit riesigen Banderolen, darauf Parolen der Studenten. Geriet mit gereizten Polizisten aneinander. Kam aber heil und mit einem Packen geretteter Bilder aus der Sache heraus.

Gerhard Jancke gehörte zu der Generation, deren Eltern keine Vergangenheit zu haben schienen. Karge, strenge, Kinderjahre. Kalte Nachkriegswinter, die man nur im Bett aushalten konnte, der Vater, ein Lehrer, Autoritätsperson zu Haus und in der Schule, verkroch sich frierend mit ihnen unter der Decke und las vor: Sagen, Märchen, griechische Mythen.

Gerhard Jancke verließ dann zwar Hildesheim, doch an der FU Berlin blieb er den Interessen seines Vaters treu: Germanistik und Altgriechisch belegte er zunächst. Und schon da interessierte er sich eher für die Literaturwissenschaft als für die Literatur. Er liebte das exakte Denken, die Philosophie. Bis zum Schluss saß er täglich in seinem Arbeitszimmer, lesend oder schreibend, auf seiner Schulter eine Katze, die schlief.

1962, während eines Studentenjobs, lernte er seine Frau lieben. Doch wohin zu dieser Zeit mit all der Sehnsucht? Da waren die Augen der Nachbarn, die Augen des Gesetzes: Der so genannte Kuppelparagraph verbot, dass man sich unverheiratet in den Armen lag.

Immer in den Semesterferien reisten Gerhard und Gabriele nach Griechenland. In einer kleinen protestantischen Kirche in Athen heirateten sie. Als sie dort ankamen, strahlend, empfing sie ein verstimmter Pfarrer aus Dahlem, der unfreiwillig von seiner Berliner Gemeinde in den heißen Süden geschickt worden war. Und bald stellte sich heraus, dass es deutsche Regeln gab, nach denen die Ehe, die der Berliner Pfarrer geschlossen hatte, in Deutschland nicht einfach so gültig war. Achselzuckend heirateten die beiden also noch einmal auf einem deutschen Standesamt.

Mit Humor, seinem feinen, hintergründigen, nahm Gerhard Jancke all diese Subtilitäten der Bürokratie. Und vieles mehr noch. Zwei Zeilen des Dichters Nicolaus Lenau auf seinem Grabstein: „Daß alles Sterben und Vergehen/Nur heimlichstill vergnügtes Tauschen.“

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