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Mehr als fünf Milliarden Antibabypillen laufen im Bayer-Werk an der Berliner Müllerstraße jährlich vom Band. Das Verhütungsmittel wird hier verpackt.

© Mike Wolff

Gesundheitswirtschaft: Von Pillen und Prothesen

Unis, Medizintechnik- und Biotechnologiefirmen bieten der Pharmaindustrie in der Hauptstadt ein attraktives Umfeld. Doch nur wenige Großkonzerne produzieren hier. Teil 2 der Tagesspiegel-Serie Berlindustrie 2011.

In großen Metallboxen kommen die Antibabypillen am Berliner Standort des Pharma- und Chemiekonzerns Bayer in Wedding an. Ein Mitarbeiter kippt sie in die mehrere Meter lange Verpackungsmaschine, die Pillen fallen in die Plastikverpackungen – sogenannte Blister – und nehmen unter lautem Geratter auf den Bändern ihren Lauf. Innerhalb weniger Minuten werden sie verschweißt, bedruckt und verpackt. Mit dem bloßen Auge lässt sich kaum noch erkennen, wie die Maschine die Schachteln faltet. Und plötzlich steht am Ende des Bands eine Kiste, gefüllt mit 100 Pillenschachteln, bereit für den Transport in weltweit mehr als 100 Länder.

1000 verschiedene Verpackungsmodelle für die Antibabypille beherrschen die Maschinen. Die Programmierung ist komplex, denn je nach Land und Pillensorte müssen andere Beipackzettel beigelegt, ein anderer Karton gewählt werden. Auch die Anzahl unterscheidet sich je nach Sorte: In der neuen Phasen-Pille stecken Tabletten mit bis zu fünf unterschiedlichen Dosierungen. 5,5 Milliarden Antibabypillen laufen pro Jahr in Berlin vom Band, betreut von 180 Mitarbeitern, die von der Alufolie, die die Blister versiegelt, bis zu den Kartons für den Versand die Maschinen bestücken und die Produkte kontrollieren.

Bevor die Pille in Berlin verpackt wird, hat sie einen weiten Weg hinter sich. Die Hormone werden in Bergkamen hergestellt, in Weimar werden die Pillen gepresst. In den 60er Jahren, als das Unternehmen an der Müllerstraße in Wedding noch Schering hieß und die erste Antibabypille in Deutschland auf den Markt brachte, wurden die Tabletten noch in der Hauptstadt geformt. Und auch die Schachteln und die Beipackzettel wurden von Hand gefaltet.

Schering, seit 2006 eine Tochter von Bayer, ist nur ein Beispiel für Berlins lange und sich stetig wandelnde Pharmatradition. Ende des 19. Jahrhunderts gründeten sich auch Unternehmen wie Berlin Chemie oder Dr. Kade. In der Forschung kam immer wieder Revolutionäres aus der Hauptstadt: Robert Koch gelang 1882 in Berlin der Nachweis des Tuberkuloseerregers, sein Assistent Emil von Behring entwickelte zehn Jahre später ein Mittel gegen Diphtherie. Schering erforschte hier seine Antibabypille und das erste intravenöse Kontrastmittel.

Der zweite Weltkrieg und die Teilung der Stadt hinterließen jedoch ihre Spuren. Aus dem größten Industriezentrum Deutschlands, als das Berlin zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch galt – Borsig baute Maschinen, Siemens & Halske und AEG produzierten Elektrogeräte, die Bau- und die Bekleidungsindustrie boomten – wurde eine strukturschwache Stadt. 1936 arbeiteten 600 000 Beschäftigte im produzierenden Gewerbe, heute sind es rund 100 000.

Die Gesundheitswirtschaft in Berlin ist heute wieder ein Hoffnungsträger für die Hauptstadt. Mehr als 220 000 Menschen arbeiten in 23 Pharmaunternehmen, 210 Medizintechnik- und 125 Biotechnologiefirmen, 79 Kliniken und etlichen Forschungseinrichtungen. Die großen Namen bleiben dennoch überschaubar. Die Pharmatochter von Bayer (früher Schering) ist mit 5000 Mitarbeitern, davon 2000 in der Forschung, der größte Arbeitgeber der Branche in Berlin. Der US-Konzern Bausch und Lomb forscht und produziert in Spandau mit mehr als 600 Beschäftigten. Sanofi-Aventis hat Marketing und Vertrieb für Deutschland an die Spree verlegt. Und der weltgrößte Pharmakonzern Pfizer steuert sein Deutschlandgeschäft und die europäische Krebssparte von der Hauptstadt aus.

Punkten kann Berlin mit seinem produktiven Umfeld. Denn die Pharmakonzerne profitieren von den vielen kleinen Biotechnologiefirmen in den Wissenschaftsparks wie Adlershof oder Buch, aber auch von der Forschungsvielfalt der Hochschulen und Kliniken. Tausende junge Menschen studieren in der Hauptstadt naturwissenschaftliche Fächer und sind die Fachkräfte von morgen.

Besonders für die großen Pharmakonzerne wird die Kooperation mit Biotechnologiefirmen immer wichtiger, weil sie wegen auslaufender Patente und zunehmender Konkurrenz von Generikaherstellern unter Druck stehen. Die kleinen, innovativen Firmen der Branche – oft Ausgründungen aus Unis – erlauben es den Konzernen, neuartige Wirkstoffe einzukaufen, ohne selbst das Risiko der Entwicklung eingehen zu müssen. „Für die meisten Konzerne ist eine so breite Forschungsvielfalt nicht finanzierbar, wie sie die vielen kleinen Start-ups darstellen können“, sagt Fritz Sörgel, Leiter des Instituts für Biomedizinische und Pharmazeutische Forschung bei Nürnberg. Davon würden auch die kleinen Firmen profitieren, die es allein kaum schaffen können aus einer Substanz eine Arznei zu machen. „Viele junge Unternehmen brauchen Wagniskapital, weil sie sonst keine klinischen Studien finanzieren könnten, um die Wirkstoffe zur Marktreife zu bringen“, sagt Sörgel.

Für die großen Unternehmen gibt es verschiedene Möglichkeiten, von den Innovationen der Biotech-Firmen zu profitieren. Zum Beispiel über Kooperationsverträge. Die Konzerne finanzieren etwa die Erprobung eines Arzneimittels und erwerben dafür eine Lizenz. Somit können sie bei einem Erfolg das Mittel unter ihrem Namen vermarkten. Immer häufiger kaufen die Pharmakonzerne aber auch Biotechunternehmen auf. Der französische Pharmakonzern Sanofi-Aventis übernahm erst kürzlich das US-Unternehmen Genzyme. Auch die Kooperation mit Kliniken und den außeruniversitären Forschungseinrichtungen, die vielfach Grundlagenforschung betreiben, ist interessant für die Großen.

Beispiele gibt es auch in Berlin. Die Vermarktungsrechte am Multiple-Sklerose- Mittel Betaferon, für das das Lösungsmittel ebenfalls in Berlin-Wedding hergestellt wird, kaufte Schering 1993 vom Biotech-Konzerns Chiron. Der US-Konzern Thermo Fisher Scientific übernahm 1999 unter dem jetzigen Bayer-Chef Marijn Dekkers das Diagnostikunternehmen Brahms aus Hennigsdorf bei Berlin. Und das irische Unternehmen Shire kaufte 2008 das Berliner Pharmaunternehmen Jerini. Mit der Charité vereinbarte Sanofi-Aventis im vergangenen Jahr eine Partnerschaft, um die Forschung stärker zu vernetzen.

Experten sehen den Gesundheitsstandort Berlin für die Zukunft gut gerüstet. Das Beratungsunternehmen McKinsey erklärte die Gesundheitswirtschaft zu einer der zentralen Branchen, die die Wertschöpfung der Hauptstadt steigern könne – auch wegen der vielfältigen Forschungslandschaft. Und das Wirtschaftsforschungsinstitut Wifor erwartet weiter steigende Beschäftigtenzahlen. 2030 sollen in der Hauptstadt fast 250 000 Menschen in der Gesundheitswirtschaft arbeiten.

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