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Wirtschaft: Hanna Ziemann

Geb. 1943

Immerzu hatte sie es mit Fragen zu tun, auf die es keine Antworten gibt. Vierbettzimmer hat Hanna Ziemann gemieden. Vor drei Zuhörern öffnet kein Patient gern sein Herz. Vierbettzimmer sind schwieriges Terrain für Seelsorger.

In kleinere Zimmer geht man hinein, wünscht Guten Tag, stellt sich vor, erkundigt sich nach dem Befinden und fährt die Antennen aus. Die Antennen sind das Wichtigste. Wenn einer sagt, er brauche keine Hilfe, dann ist das manchmal die Wahrheit. Es kann aber auch Selbstverleugnung sein oder der Versuch, Stärke zu zeigen. Ein Seelsorger mit guten Antennen spürt, ob er am nächsten Tag wieder vorbeischauen sollte oder nicht.

Hanna Ziemanns Arbeitsplatz war das Klinikum Neukölln, ihr Arbeitgeber die evangelische Kirche. Mittags kam sie zur Arbeit geradelt, stellte ihr altes blaues Fahrrad ab und streifte zuerst durch den Krankenhauspark, um Blumen für Andachtsraum und Seelsorgerzimmer zu pflücken. Aus gewöhnlichsten Heckenblüten vermochte Hanna Ziemann prächtige Arrangements zu zaubern. Nach ihrem Tod mussten ihre Kollegen feststellen, dass drei Sonnenblumen in einer Vase noch lange keinen Strauß ergeben.

Hanna Ziemann war keine große Kämpferin, aber eine beharrliche Person. Weil sie keine Druckmittel hatte und weil Beharrlichkeit sie mehrfach zum Erfolg geführt hat: Als das Krankenhaus Britz geschlossen wurde und der Glockenturm im Vorgarten abgerissen werden sollte, wich sie den Bauarbeitern nicht von der Seite, bis sie die Glocke bargen, die Hanna Ziemann einem Kloster in Brandenburg zugedacht hatte.

Mit Beharrlichkeit hat sie sich vor 20 Jahren auch die Ausreise aus der DDR erkämpft. Dabei trennten sich die Theologin und der Arbeiter- und Bauern-Staat durchaus im Guten. Hanna Ziemann war fromm, aber unpolitisch. In den Westen wollte sie allein wegen ihrer geistig behinderten Schwester. Die mochte sie nicht in einem Heim aufbewahren lassen. Jetzt lebt die Schwester mit ihrem Partner betreut in einer eigenen Wohnung, mit eigenem Taschengeld.

Hanna Ziemann verfolgte keinen großen Traum. Aber viele klei- ne. Es waren gute Tage, wenn sie Patienten ein Eis mit Erdbeeren ans Bett bringen konnte. Oder selbst gebackenen Kuchen oder eine prächtige Weintraube. Das war Seelsorge für die Menschen, die im Krankenbett liegen und Fragen wälzen, auf die auch ein Seelsorger keine Antwort hat. Fragen nach Gott, der einen hilflos liegen lässt. Fragen nach dem Sinn des Weiterlebens ohne Augenlicht. Hanna Ziemann ging nicht zu den Patienten, um Antworten zu geben, sondern um zuzuhören und ihnen beim Ordnen der Gedanken zu helfen. Manchmal stupste sie die Leute ein bisschen an, baute Brücken, die sie erst bemerkten, wenn Hanna Ziemann das Zimmer verlassen hatte. Dann tasteten sich die Patienten darüber und sahen vielleicht, warum sich das Weiterleben lohnt, und dass es ihnen nicht ganz so schlecht geht, wie sie glaubten.

Abends radelte Hanna Ziemann nach Hause. Auch ihre drei Kollegen fahren mit dem Rad, denn an frischer Luft verflüchtigt sich die Last des Tages schneller. Seit sie von ihrer Gemeinde zum 60. Geburtstag ein neues Fahrrad geschenkt bekommen hatte, konnte Hanna Ziemann dem Alltagskummer noch etwas leichter davonfahren. Das Fahrrad war ihr Glück – und wurde ihr Unglück. Sie wollte eine Altardecke sie zur Reinigung bringen. Flott radelte sie über die Straße vor dem Krankenhaus. Es ist nicht sicher, ob ihre Ampel schon Rot zeigte. Sicher ist nur, dass die Autos noch nicht Grün hatten. Ein Fahrer zog auf der Busspur am Stau vorbei.

Eine Woche lang saßen ihre Kollegen beieinander und wälzten Fragen, auf die es keine Antworten gibt. Dann musste das Leben weitergehen, irgendwie.

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