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Wirtschaft: Hans-Joachim Klatt

(Geb. 1931)||Als er nicht mehr Taxi fuhr, blieb der Mercedes vor der Tür.

Als er nicht mehr Taxi fuhr, blieb der Mercedes vor der Tür. Ihre Familien mussten weite Wege gehen, damit Hans-Joachim, „Jochen“ genannt, und seine Frau Helga zusammenkamen. Sie stammt von polnischen Einwanderern aus dem Ruhrgebiet ab, die ihren Namen noch eingedeutscht haben, seine Vorfahren sollen Hugenotten gewesen sein, das behaupteten jedenfalls die Mecklenburger Tanten.

Als im Krieg die ersten Bomben fielen, brachte Jochens Vater, ein Steuerinspektor beim Finanzamt Charlottenburg, seine Söhne mit der Kinderlandverschickung in Ostpreußen unter. Als die Lage auch dort zu gefährlich wurde, ließ er sie nach Binz evakuieren, wo die gläubigen Hitlerjungen während des Sportunterrichts am Strand die V 2 am Himmel sahen und weiter vom Endsieg träumten. Später ging es unter Tieffliegerbeschuss mit der Bahn nach Dänemark. Am 9. April 1945, von unterwegs, schickte Jochen eine Postkarte mit aufgedruckter Hitler-Briefmarke nach Hause: „In Rostock hatten wir heute warmes Essen, bestehend aus Wirsingkohl, Mohrrüben usw. Es hat gut geschmeckt.“ Immerhin, die Eltern wussten nun über die Verpflegung ihres Sohnes Bescheid. Zwei Jahre blieb die Klasse in Dänemark, ohne Kontakt zu den Familien, aber in Sicherheit und gut versorgt. Als Jochen 1947 heimkehrte, war der Vater im Internierungslager Buchenwald verstorben, die Mutter Trümmerfrau. Jochen ging wieder zur Schule und streifte durch die Ruinen der Stadt. Ein Studium der Volkswirtschaft brach er ab, aber er entdeckte seine größte Leidenschaft, das Reisen. Mit dem Fahrrad fuhr er über die Interzonenautobahn in Richtung Alpen, und schob es über den St. Gotthard.

1958 verließ er Berlin und ging ins Ruhrgebiet in den Bergbau. Warum er weggegangen ist, hat er der Familie nie verraten. Jedenfalls lernte er im Ruhrgebiet, wo er sich seinen ersten VW-Käfer leisten konnte, Helga kennen. Er klapperte mit dem Autoschlüssel, um sie auf sich aufmerksam zu machen. Helga hatte ihm gleich gefallen, sie arbeitete als Verkäuferin in einem großen Kaufhaus, wo allein 27 Serviererinnen im Erfrischungsraum bedienten, am Wochenende mit Kapelle. Käfer und Kaufhaus – eine Liebe der Wirtschaftswunderjahre.

Auch Helga war im Krieg in Ostpreußen gelandet, von wo ihre Mutter noch im Januar 1945 allein nach Bochum fuhr, um einen Koffer mit Wäsche zu holen. Flucht und Überfahrt im Bauch eines überladenen Schiffs, Tiefflieger, in Swinemünde: Sie entging nur knapp der Katastrophe. Bei der Heimkehr war der Vater in englischer Gefangenschaft und die Wohnung mit Ausgebombten belegt. Die Mutter starb an Typhus, Wasser aus einer Lokomotive soll schuld gewesen sein. Während Jochen in Berlin durch die Ruinen von Reichskanzlei und Schloss streifte, sammelte Helga in den Bochumer Kasernen Granatsplitter.

Als die beiden ein Paar werden, trifft man sich zunächst im Haus ihrer Eltern, um sich aber bald zu verloben, schon wegen der strengen Nachbarn. Als der erste Sohn kommt, gehen sie nach Berlin, zurück ins Bayerische Viertel, zu Jochens Mutter. Er kauft sich einen alten Mercedes und macht sich als Taxifahrer selbstständig. Sein Traum ist das nie gewesen, aber im kuscheligen West-Berlin lässt der Job genug Freizeit. Sie kommen über die Runden, und er kann öfter mal spontan eine Pause einlegen und die Familie mit dem Taxi in den Grunewald fahren.

Aber mit der Gesundheit gibt es Probleme. Wie so viele Nachkriegskinder isst er zu viel. Auch die Zeit im Bergbau hat ihm geschadet. Was es bedeutet, als Kind so lange fort von zu Hause gewesen zu sein, kann man nur erahnen. Wenn es ihm besser geht, reist er, auch in die DDR, ins mecklenburgische Dorf seiner Mutter, wo er alte Spielkameraden trifft, oder nach Ostpreußen, wo er als Kind eine schöne Zeit hatte. Das Taxifahren gibt er erst auf, als es gar nicht mehr geht. Der Mercedes bleibt vor der Tür stehen, vielleicht will er das Gefühl nicht verlieren, mobil zu sein. Als er am Ende doch ins Krankenhaus muss, wünscht er sich, jetzt einfach ins Auto zu steigen und irgendwo anders hin zu fahren.

Jochen Schmidt

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