zum Hauptinhalt

Wirtschaft: Hans-Werner Sinn im Gespräch: "Wer nicht arbeiten will, bekommt weniger"

Hans-Werner Sinn (52), lehrt seit 1984 als Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Ludwig-Maximilian-Universität München. Seit 1999 ist er auch Präsident des Münchner Ifo-Instituts, eines der sechs führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute.

Hans-Werner Sinn (52), lehrt seit 1984 als Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Ludwig-Maximilian-Universität München. Seit 1999 ist er auch Präsident des Münchner Ifo-Instituts, eines der sechs führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute. Gleichzeitig leitet er nach wie vor das Center for Economic Studies (CES) an der Münchner Uni. Mit scharfsinnigen Kommentaren zu allen erdenklichen wirtschaftspolitischen Themen - ob Arbeitslosigkeit, Rente, Ladenschluss oder Währungsunion - machte sich der gebürtige Westfale bereits in den 80er-Jahren einen Namen als scharfsinniger Theoretiker. Drei Jahre, zwischen Von 1997 bis Ende 2000 war er Vorsitzender des Vereins für Socialpolitik. Seit 1989 gehört Sinn dem Wissenschaftlichen Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium an. Von 1992 bis 1994 stand er der Expertenkommission Wohnungspolitik beim Bundesbauministerium vor. Seit einem Jahr sitzt Sinn im Aufsichtsrat der Hypo-Vereinsbank.

Herr Sinn, in Nizza wurden die Weichen für die EU-Osterweiterung gestellt. Droht uns jetzt eine Welle von Einwanderern aus Polen, Ungarn, Tschechien und dem Baltikum?

Es wird eine Flut von Einwanderern geben. Aber sie droht nicht. Es ist ganz vernünftig, dass Arbeitnehmer aus Osteuropa zu uns kommen. Von solchen Wanderungen profitieren Gastland und Zuwanderer gleichermaßen. In der Summe gibt es einen Verteilungsgewinn für alle Beteiligten, auch für Deutschland.

Verlierer gibt es keine?

Doch. Mancher Arbeitnehmer wird verlieren. Kommen, wie zu erwarten ist, vor allem gering Qualifizierte zu uns, so werden die besser Ausgebildeten zwar profitieren. Doch jene Deutschen, die in Konkurrenz zu den Zuwandernden stehen, werden verlieren. Entweder sinkt der Lohn für einfache Arbeit, oder die Arbeitsplätze der Inländer werden unsicherer. Bei flexiblem Lohn allerdings kann man mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass keine zusätzliche Arbeitslosigkeit entsteht.

Also lohnt sich die Osterweiterung für Deutschland?

Ja, ungeachtet des Verteilungsproblems wird der Kuchen wachsen. Übrigens wäre auch ein sehr rascher Beitritt der ersten Länder, etwa 2003, kein grundsätzliches Problem. Allerdings darf man keine Fehler machen. Die Sache ist kein Kinderspiel für die Wirtschaftspolitik.

Welche Fehler sollte die Regierung Schröder vermeiden?

Ein Fehler wäre es, nach der Green-Card-Diskussion jetzt eine zusätzliche Zuwanderung im großen Stil aus Nicht-EU-Ländern zu erlauben. Wir werden ohnehin einen sehr umfangreichen Zuzug aus den neuen EU-Ländern bekommen. Dazu brauchen wir kein Einwanderungsgesetz. Die Löhne in Ostpolen liegen bei einem Zehntel der hiesigen Löhne; in Westpolen bei einem Siebtel.

Will denn jeder nach Deutschland?

Bislang sind zwei Drittel der osteuropäischen Zuwanderer nach Deutschland gekommen. Das wird auch so bleiben.

Wie kann man ohne Einwanderungsgesetz dazu beitragen, dass die Leute zu uns kommen, die wir brauchen?

Das ist nicht einfach. Die Freizügigkeit ist eines der Grundrechte in der EU, und nur in einer Übergangszeit ist es möglich, Quoten festzulegen. Auf Dauer ist jeder berechtigt, sich seinen Job dort zu suchen, wo er will. Die Bundesregierung strebt eine Übergangsfrist von mehr als fünf Jahren an, innerhalb derer sie die Einwanderung begrenzen kann. Auf jeden Fall macht es während der Übergangszeit keinen Sinn, die Zuwanderung aus Drittländern zu forcieren.

Wie soll die deutsche Arbeitsmarktpolitik auf den Lohndruck, den Sie erwarten, reagieren?

Man muss die Löhne stärker differenzieren und im Tarifvertragssystem Niedriglohngruppen einrichten, die unter der heutigen Sozialhilfe liegen. Dazu bedarf es einer gravierenden Reform der Sozialhilfe. Die Sozialhilfe wirkt wie ein Mindestlohn.

Sie wollen die Sozialhilfe abschaffen?

Nein, aber wir müssen von der passivierenden Sozialhilfe, die wir heute haben, zu einer aktivierenden Sozialhilfe übergehen, also Lohnergänzungs-, statt Lohnersatzleistungen zahlen. Heute erhält man Sozialhilfe nur unter der Bedingung, dass man dem Arbeitsmarkt fern bleibt. Sinnvoller wäre es, die Sozialhilfe an die Bereitschaft zur Arbeit zu knüpfen. Wer arbeitsfähig ist, aber nicht arbeitet, bekommt eine Sozialhilfe alter Art, die weit unter dem Niveau liegt, welches das Bundesverfassungsgericht als Existenzminimum definiert hat.

Sozialhilfeempfänger sollen weniger erhalten als das Existenzminimum?

Jeder soll arbeiten und ein Gesamteinkommen erzielen können, das über dem heutigen Sozialhilfeniveau liegt. Um dieses Ziel zu erreichen, muss der Staat das durch die Kürzung der alten Sozialhilfe eingesparte Geld verwenden, um eine zweite Sozialhilfe als Lohnzuschuss zu zahlen. Außerdem muss der Staat Arbeitsplätze zur Verfügung stellen, damit keiner sagen kann, er habe keinen Arbeitsplatz gefunden. Eine solche Politik schafft Arbeitplätze, weil die Leute auch zu niedrigem Lohn arbeiten werden, um in den Genuss des staatlichen Zuschusses zu kommen. Außerdem ermöglicht sie es, Zuwanderer zu integrieren, und verhindert damit, dass Einheimische in die Arbeitslosigkeit abgedrängt werden. Varianten dieses Modells werden übrigens schon seit langem in den USA und neuerdings auch in Finnland und Frankreich praktiziert.

Und das Ganze heißt dann Arbeitspflicht?

Nein. Das ganze funktioniert allein über finanzielle Anreize. Wer trotz der Anreize nicht arbeiten will, soll es lassen. Er erhält dann eben weniger Sozialhilfe. Außerdem: Wer erwerbsfähig ist und nicht arbeitet, obwohl ihm ein Job und Lohnzuschüsse angeboten werden, erzielt vermutlich ein hinreichendes Einkommen in der Schattenwirtschaft. Um diese Leute muss man sich keine Sorgen machen. Ich will keine Arbeitspflicht, halte es aber für unsinnig, denjenigen, denen man helfen will, nur unter der Bedingung zu helfen, dass sie selbst nichts tun.

Und was macht eine allein erziehende Mutter mit drei Kindern, die nicht arbeiten kann, selbst wenn sie es wollte?

Der Staat muss definieren, wer arbeiten kann und wer nicht. Wer aus medizinischen oder sozialen Indikationen nicht arbeiten kann, für den sollte künftig das alte System fortbestehen. Die Politik muss Grenzen definieren.

Was müsste denn noch passieren, damit sich das Wirtschaftswachstum auch für die Menschen in Form von mehr Jobs bezahlt macht?

Der Flächentarifvertrag müsste erheblich gelockert werden. Wenn die Mehrheit der Belegschaft eines Betriebs beschließt, zum Zwecke der Erhaltung der Arbeitsplätze niedrigere Löhne auszuzahlen, dann müsste dieser Beschluss sich auch durchsetzen lassen. Im Osten hat der Flächentarifvertrag ohnehin schon für 85 Prozent der Unternehmen keine Bedeutung mehr, weil sie aus den Arbeitgeberverbänden ausgetreten sind oder den Vertrag missachten - übrigens häufig mit stillschweigender Billigung der Gewerkschaften. Statt die Wirklichkeit am Gesetz auszurichten, sollte man lieber das Gesetz an die Wirklichkeit anpassen.

Wie beurteilen Sie die Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung zur Halbzeit?

Die Steuerpolitik war gut, und sie wird einige Arbeitsplätze schaffen. Die Neuregelung der 630-Mark-Jobs hingegen war ein Fehler; dadurch sind viele Arbeitsplätze verschwunden. Mich irritiert zurzeit die geplante Ausweitung der Mitbestimmung. Die gibt es in anderen Ländern nicht, und sie schreckt die Investoren ab. Die Idee, dass Betriebe demokratisch geleitet werden sollen, hört sich gut an, funktioniert aber nicht.

Welchen Sinn hat das Bündnis für Arbeit noch?

Das Bündnis ist sinnvoll. Man muss die Machtverhältnisse dieser Gesellschaft respektieren und versuchen, zu einem Konsens zu kommen. Die Forderung, die gesellschaftlichen Gruppen zu entmachten und im Hau-ruck-Verfahren ein liberaleres System einzurichten, wie es manche Ökonomen fordern, ist wirklichkeitsfremd. Ich würde im Rahmen des Bündnisses für Arbeit versuchen, eine zurückhaltende Lohnentwicklung und eine stärkere Lohndifferenzierung gegen eine Mitbeteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen einzuhandeln - eine Mitbeteiligung an den Unternehmen, die nicht mit einer erneuten Ausweitung der Mitbestimmungsrechte einhergeht. Im Übrigen ist es ein Missverständnis bei Gewerkschaften und Arbeitgebern, wenn sie glauben, dass eine Lohndifferenzierung, wie sie mit meinem Vorschlag zur Lockerung des Flächentarifvertrags verbunden ist, zu Lasten der Arbeitnehmer geht. Das Gegenteil ist ja der Fall. Anbieter, die den Preis einer Ware differenzieren, nehmen mehr und nicht weniger ein - das ist bei der Bundesbahn oder der Lufthansa nicht anders als bei der IG Metall, wenn sie die Arbeitskraft als Ware anbietet.

Die Schröder-Regierung reklamiert den Aufschwung als ihren Erfolg und will sich an der Zahl der Arbeitslosen messen lassen. Nun verlangsamt sich das Wachstum. Was kann die Koalition tun?

Der Aufschwung gehört nicht der Regierung, sondern den Weltmärkten. Die Exporte haben sich in den letzten zwei Jahren stürmisch entwickelt und die europäische wie die deutsche Wirtschaft beflügelt. Jetzt gibt es eine Normalisierung, und wir müssen befürchten, dass die US-Konjunktur sich deutlich abschwächt, was unsere Exporte beeinträchtigt. Auch die Binnennachfrage ist wegen des Ölschocks noch zurückhaltend. Das Ifo-Konjunkturklima zeigt ja schon mehrere Monate nach unten. Es handelt sich dabei aber nicht um eine Rezession, sondern nur um die Abschwächung eines Wachstumstrends, die nicht verhindert, dass die Arbeitslosenzahlen zurückgehen werden.

Deutschland wächst langsamer als die übrigen Euro-Länder. Kann die Regierung gar nichts tun, um das Wachstum zu stimulieren?

Anders als Deutschland stecken viele andere Länder noch in einem wirtschaftlichen Anpassungsprozess und wachsen daher schneller als wir. Deutschland könnte aber noch etwas schneller wachsen, gelänge es, die Sozial- und Tarifpolitik zu reformieren. Die USA haben uns im letzten Jahrzehnt vorgemacht, wie ein flexibler Arbeitsmarkt auch in einer reifen Wirtschaft Wachstum erzeugen kann.

Mit reiner Angebotspolitik. Die Nachfragepolitik gehört also in die Mottenkiste?

Nein, in einer Rezession hat eine gegensteuernde Konjunkturpolitik, bei der die Staatsausgaben trotz schwindender Steuereinnahmen aufrechterhalten werden, durchaus ihre Berechtigung. Nur erleben wir ja derzeit einen Boom. Da ist es gut, dass wir eine geringe Neuverschuldung haben, die uns die Luft gibt, die wir brauchen, um die nächste Rezession durchzustehen. Der Sparkurs von Hans Eichel ist genau richtig, um die Staatsfinanzen zu konsolidieren.

Herr Sinn[in Nizza wurden die Weichen für di]

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false