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Hartz-IV-Debatte: Geringverdiener wollen nicht aufstocken

Etwa 500.000 Vollzeitbeschäftigte in Deutschland nehmen ihren Anspruch auf staatliche Leistungen nicht wahr. Dies ist ein Zwischenergebnis aus einer von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Studie. Offenbar schämen sich viele für die Hartz-IV-Unterstützung.

Eine halbe Million Vollzeitbeschäftigte in Deutschland verzichten auf staatliche Unterstützung. Sie lassen ihren geringen Verdienst nicht mit Arbeitslosengeld II "aufstocken", obwohl sie einen Anspruch darauf hätten. Damit übersteigt die Zahl der Vollzeitbeschäftigten, die in verdeckter Armut leben, sogar die Zahl der vollzeitbeschäftigten "Aufstocker" (rund 400.000).

Nimmt man auch Beschäftigte mit geringerer Stundenzahl hinzu, dürfte die Zahl der Beschäftigten, die ihre staatliche Unterstützung nicht wahrnehmen, noch weitaus höher sein. Das zeigen Zwischenergebnisse aus einem von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung geförderten Forschungsprojekt der Frankfurter Wirtschaftswissenschaftlerin Irene Becker. In Deutschland waren im vergangenen September insgesamt knapp 1,4 Millionen Menschen trotz Berufstätigkeit auf "Hartz-IV"-Unterstützung angewiesen. Stark zugenommen hat vor allem die Zahl der Arbeitslosengeld-II-Empfänger mit Minijobs.

Durch die Hartz-IV-Reform sei die Dunkelzifferquote der Armut "nicht gesunken", resümiert Becker. Als zentrale Gründe für den Verzicht auf staatliche Unterstützung nennt die Forscherin neben mangelnder Informiertheit über Ansprüche auch Scham, durch Hartz IV stigmatisiert zu werden, oder die Scheu, sich mit dem komplizierten Antragsverfahren auseinanderzusetzen. Dass die betroffenen Menschen trotz ihres niedrigen Erwerbseinkommens und ohne staatliche Ergänzung einer Vollzeittätigkeit nachgehen, stehe in "auffallendem Kontrast" zu Thesen über negative Arbeitsanreize der staatlichen Grundsicherungszahlungen, so Becker. Der FDP-Chef Guido Westerwelle hatte nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Sätzen davor gewarnt, den Deutschen "anstrengungslosen Wohlstand" zu versprechen und von "spätrömischer Dekadenz" gesprochen.

Falsche Anreize für Abeitgeber

Claus Schäfer, Leiter des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts in der Hans-Böckler-Stiftung, hält es angesichts eines weiter wachsenden Niedriglohnsektors für problematisch, die Hinzuverdienstgrenzen beim Arbeitslosengeld II anzuheben. Dies plant die schwarz-gelbe Bundesregierung. Doch das würde die Anreize für Arbeitgeber steigern, die Löhne noch weiter zu senken, erklärt Schäfer. Hartz IV funktioniere in Kombination mit Niedriglöhnen schon jetzt wie "ein verstecktes Kombilohn-Programm" zugunsten der Arbeitgeber.

In einer gemeinsamen Studie analysierten die Forschungsinstitute der Hans-Böckler-Stiftung bereits 2006 verschiedene Kombilohnprogramme und kamen zu einem skeptischen Schluss: Wirkungslos für die Beschäftigung und hohe Kosten für den Staat.

Als bessere Alternative nennt Schäfer einen gesetzlichen allgemeinen Mindestlohn. Dieser "würde die Subventionierung nicht Existenz sichernder Löhne erheblich eindämmen." Ergänzend sei aber auch eine Erhöhung der Hartz-IV-Leistungen nötig, wie es das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts nahe lege. Denn im Fall von Familien hätten diese Leistungen die Aufgabe, den Bedarf insbesondere der Kinder zu sichern.

Auch der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbunds, Michael Sommer, hat seine Forderung nach Mindestlöhnen erneuert. Man müsse von jeder Vollzeitarbeit leben können, sagte Sommer  und sprach von einem Mindestlohn von 7,50 bis 8,50 Euro. Der Niedriglohnsektor dürfe nicht in den Bereich von Armutslöhnen gehen. Union und FDP sind gegen einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn.

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