zum Hauptinhalt

Wirtschaft: Hilde Keller

(Geb. 1905)||Sie sagte gerne und recht streng: „Bitte!“ Es klang bei ihr mehr wie: „Bättö!“

Sie sagte gerne und recht streng: „Bitte!“ Es klang bei ihr mehr wie: „Bättö!“ Hildes Mutter notiert 1907 in ein mit buntem Stoff überzogenes Büchlein: „Das Kind ist eigenwillig, eigensinnig und stolz.“ Und 1912: „Sie ist so gar nicht sentimental.“

Das Willensstarke und Unsentimentale hatte Hilde von ihrem Vater, einem stattlichen, stets korrekt gekleideten Kaufmann. Alles Schwärmerische erschien ihm überspannt und nutzlos in einer Welt, in der Geschäfte blendend oder miserabel laufen.

Hildes Mutter dagegen zeichnete und schrieb und spielte den Chopin so einfühlsam, dass ihren Kindern Tränen in die Augen traten. Einmal sagte sie zu ihrem Mann: „Max, ich will mit dir darüber sprechen, wie das Leben weitergeht.“

„Das Leben geht gut weiter“, sagte der, „dafür habe ich gesorgt. Die Kinder sind gesund, unser Haus ist groß, der Garten weitläufig.“

„Ja Max, unser Garten, die drei Apfelbäume dort. Jedem Kind habe ich einen geschenkt. Willst auch du ein Geschenk? Was wünschst du dir? Die Sonne, den Mond oder die Sterne?“

„Margarete, ich brauche kein Geschenk!“

Es mangelte an nichts. Im dreigeschossigen Jugendstilhaus in einem vornehmen Frankfurter Viertel gab es eine Köchin und ein Dienstmädchen, an eine Tätigkeit im Hause oder gar in der Küche war nicht zu denken. Erkrankte eines der Kinder „scheußlich“, sah eine Krankenschwester nach dem Verlauf der Fieberkurve. Und bisweilen kam ein Hauslehrer, denn Hilde mochte eines der Fräulein an der städtischen Schule ganz und gar nicht leiden.

Eines Nachmittags besuchte Hilde zusammen mit einer Schulfreundin die Kaiserin in ihrem Sommerhaus in Kronberg. Mit einem adretten Kleidchen, in den rotblonden Locken eine niedliche Schleife, wusste sie gekonnt den Hofknicks zu vollführen. Bei einer heißen Schokolade plauderte sie mit Auguste Viktoria, bis die sich zurückzog. Hildes Bericht des Besuches lautete: „Die Kaiserin fragte eben und ICH antwortete ihr.“

Mit 20 Jahren verkündete Hilde: „Ich will nach Berlin!“ – „Gut“, sagte ihr Vater, „ich gebe dir 100 Mark.“ Auch damals waren 100 Mark nicht die Welt. Doch die zielstrebige Hilde packte ihre Sachen, winkte ihrem korrekt gekleideten Vater, ihrer sanft dreinblickenden Mutter, dem Dienstmädchen und dem vornehmen dreigeschossigen Jugendstilhaus noch einmal zu und fuhr los.

Sie bezog ein kleines möbliertes Zimmer in einem Berliner Mietshaus. In Frankfurt am Main hatte Hilde ein Kindergärtnerinnenseminar absolviert. Hier in Berlin schrieb sie sich am Pestalozzi-Fröbel-Haus ein und ließ sich zur Jugendleiterin ausbilden.

Seit den dreißiger Jahren führte sie jeweils von April bis Oktober ein Kinderheim auf der Insel Rügen. Während des Krieges wurde aus dem Sommerheim mehr und mehr ein Lazarett. Hilde betrachtete mit Aufmerksamkeit das Eintreffen von Offizieren und Doktores. Dann rückte die Rote Armee näher. Man begann, sich mit dem Gedanken an eine Flucht zu beschäftigen.

Vermutlich verlief das Gespräch, welches Hilde mit einem der verbliebenen Offiziere führte, knapp und energisch. In den Morgenstunden des 3. Mai 1945 packte sie ihren Koffer, eilte um den Bodden herum, drängte sich in das wahrscheinlich letzte Flugzeug, kommentierte die gegen das Flugzeug prallenden Granatsplitter mit einem strengen „Scheußlich!“ und landete schließlich auf einer Wiese in Schleswig-Holstein.

Den folgenden Winter verbrachte sie bei der Familie ihres Bruders in Hessen. Die Schwägerin putzte und wusch und kochte. Hilde stand hin und wieder im Garten, eine Hacke oder Harke in der Hand und plauderte.

Sie liebte die Musik, so wie sie alles Schöne liebte. Sie konnte sehr entschieden sagen: „Ist es nicht schöööön.“ Über nicht so Schönes sprach man nicht.

Als Hilde nach Berlin zurückkehrte, lernte sie am Pestalozzi-Fröbel-Haus Eugenie kennen und zog zu ihr. Eugenie, wohlgeboren, bewohnte ein schlichtes Haus in Zehlendorf. Auch im Innern ging es spartanisch zu. Die beiden Damen duldeten nur das Notwendigste. Kühlschrank, Waschmaschine, Fernsehapparat und Blumen waren nicht notwendig. Und trotz der Liebe zur Musik, Hilde und Eugenie besuchten regelmäßig die Konzerte in der Philharmonie, war es fast unanständig, ein Musikwiedergabegerät zu besitzen. Eine Nachfrage tat Hilde mit ihrer Lieblingsredensart ab: „Bitte, ihr müsst verstehen.“ Sie sprach klar, bestimmt und mit sorgfältiger Betonung jedes Konsonanten. Den Klang der Vokale aber übertrieb sie gern ein wenig. Das „Bitte“ klang bei ihr mehr wie „Bättö“.

Die Damen musizierten in ihrem Haus, Hilde spielte die Geige und die Gambe, Eugenie das Cembalo und die Gambe. Fragte jemand, ob er dem Gambenspiel einmal beiwohnen dürfe, so erhielt er zur Antwort: „Bättö, wir lassen nur Menschen zuhören, die etwas von Musik verstehen.“

Ihr halbes Leben verbrachte Hilde in diesem Haus. Dann starb Eugenie. Hilde verließ das Haus, da war sie 97. Sie zog zu einer Familie nach Reinickendorf, die sie die letzten Jahre liebevoll pflegte. Vier Monate nach ihrem 100. Geburtstag starb sie.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false