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Wirtschaft: Hilfe für Helfer

Beruf und die Pflege Angehöriger gehen nur schwer zusammen. Einige Arbeitgeber zeigen sich einsichtig

Berlin – Thomas E. hatte sich auf seinen neuen Job gefreut. In Rostock bekam der Sauerländer nach dem Studium eine vielversprechende Stelle bei einem Verband. Doch nach nur wenigen Jahren im Job kam eine Nachricht, die alles veränderte. Mit 65 Jahren erlitt sein Vater seinen ersten Schlaganfall. „Wir hatten nicht damit gerechnet, und vor allem nicht so früh“, sagt er. Zwar erholte sich der Vater, doch die Ärzte diagnostizierten Alzheimer. Mit einem Mal brauchte Thomas E.s Vater ständige Pflege. Der Volkswirt fuhr an den Wochenenden sooft er konnte nach Hause, nahm sich frei, um seine Mutter zu unterstützen. Sein Arbeitgeber hatte Verständnis.

Als der Vater eines Tages stürzte, und seine Mutter es nicht mehr allein schaffte, ihm aufzuhelfen, wurde Thomas E. klar, dass er zu Hause gebraucht wurde. „Ich sprach mit meinem Chef über eine Versetzung nach Münster“, sagt er. Der Wechsel in den neuen Job gelang, doch dabei blieb es nicht. Immer wieder musste Thomas E. spontan aussetzen, wenn der Gesundheitszustand des Vaters sich verschlechterte. Mehrere Tage, oder einfach nur mehrere Stunden. „Pflege ist nicht planbar“, sagt E. heute. Sein Arbeitgeber ermöglichte ihm flexible Arbeitszeiten. Denn auf eine halbe Stelle zu reduzieren, oder auf 30 Stunden, das war finanziell nicht möglich. „Allein der voll ausgestattete Rollstuhl meines Vaters kostete mehrere Tausend Euro“, sagt er.

Für die meisten Angehörigen ist die Belastung durch die Pflege hoch, häufig geraten sie in Konflikt mit ihrem Beruf. „80 Prozent der Pflegenden fühlen sich durch die Pflegetätigkeit stark belastet“, sagt die Soziologin Svenja Pfahl vom Institut für sozialwissenschaftlichen Transfer in Berlin, die eine Studie zu pflegesensiblen Arbeitszeiten erstellt hat. Pflegende würden unter Zeitnot und nicht passfähigen Zeitstrukturen leiden. „Zudem sind sie wegen der mangelnden Vereinbarkeit häufiger krank“, sagt Pfahl.

Mehr als 2,4 Millionen Menschen in Deutschland gelten als pflegebedürftig. Hinzu kommen weitere drei Millionen Menschen, die die Statistik nicht erfasst, weil sie weniger als 14 Stunden Pflege pro Woche brauchen. Rund 4,6 Millionen dieser Menschen werden zu Hause gepflegt, von Angehörigen oder mit der Hilfe von Pflegediensten. Allein in Berlin sind mehr als 170 000 Menschen an Pflegeaufgaben beteiligt. Tendenz steigend.

„Die Unternehmen müssen dringend umdenken“, sagt Svenja Pfahl. Auch in Berlin gibt es bei der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf Nachholbedarf. „Bei den Berliner Unternehmen ist das Thema noch nicht angekommen“, sagt die Geschäftsführerin der Wirtschaftsfördergesellschaft Berlin Partner, Melanie Bähr. Für Eltern werde schon viel gemacht, bei der Pflege gebe es noch große Unklarheit. „Viele mittlere und kleinere Unternehmen haben weder Geld noch Personal für große Maßnahmen“, sagt Bähr. Dabei sei schon mit wenig Aufwand viel erreichbar. „In Berlin gibt es viele Pflegedienstleister und große Kliniken. Da müssen wir Brücken bauen“, sagt Bähr. Auch Regine Steinhauer, die mit ihrer Firma „Berufundfamilie“ Unternehmen zu dem Thema berät und zertifiziert, bestätigt das. „Der Zuzug junger, gut ausgebildeter Leute nach Berlin ist immer noch stark, weshalb viele Firmen das Problem nicht im Kopf haben“, sagt Steinhauer.

Einige Firmen in der Hauptstadt gehen aber mit gutem Beispiel voran, zum Beispiel das Pharmaunternehmen Berlin-Chemie in Adlershof. Der Betrieb, der in der Hauptstadt rund 1300 Mitarbeiter beschäftigt, wird künftig einen Fonds aufsetzen, in den jährlich 2,5 Prozent der Bruttolohnsumme des Unternehmens fließen. Aus dem Fonds erhalten dann Mitarbeiter Zuschüsse, die zum Beispiel wegen der Pflege ihre Arbeitszeit verkürzen müssen. Ab 2013 wird dieser Fonds, den die Gewerkschaft IGBCE mit den Chemiearbeitgebern für den Bezirk Nordost ausgehandelt hat, verpflichtend. Auch der Ölkonzern Total, der seine Hauptverwaltung im ehemaligen Ostteil der Stadt hat, soll ihn einführen.

Wer durch den Fonds entlastet wird – Pflegende, Schichtarbeiter, Ältere – das dürfen die Betriebsräte der Firmen selbst beschließen. Bei Berlin-Chemie soll der Fokus auf der Pflege liegen. „Unsere Zukunft wird älter“, sagt Berlin-Chemie-Vorstandschef Reinhard Uppenkamp. Derzeit würden zwar noch mehr Mitarbeiter Maßnahmen für Kinder nutzen. „In den nächsten Jahren wird sich das aber in Richtung Pflege verschieben“, sagt eine Unternehmenssprecherin. Deshalb versucht Berlin-Chemie, individuelle Lösungen bei Pflegefällen zu finden. Gleitzeit und Arbeitszeitkonten sowie Heim- und Telearbeit sind möglich. Beim Familienservice des Unternehmens können sich die Mitarbeiter zur Pflege beraten lassen.

Das Pharmaunternehmen B. Braun Melsungen, das mit knapp 400 Mitarbeitern in Neukölln produziert, geht einen ähnlichen Weg. Über die Familienteilzeit können die Beschäftigten ihre Stundenzahl reduzieren. Um ihre finanziellen Verluste zu mildern, legt B. Braun 15 Prozent auf das reduzierte Gehalt drauf – maximal für fünf Jahre. Ebenfalls können Betroffene für maximal fünf Jahre aus dem Beruf aussteigen, wenn die Pflege der Angehörigen das erfordert – die Rückkehr ist garantiert.

Auch der Berliner Gasversorger Gasag bemüht sich derzeit um eine bessere Vereinbarkeit von Pflege und Beruf. Dafür hat sich das Unternehmen prüfen lassen. Derzeit werden Informationsveranstaltungen rund um das Thema angeboten, die Gasag vermittelt ihren Mitarbeitern auch individuelle Beratung. „Auch unsere Arbeitszeiten sind sehr flexibel, wir setzen zudem sowohl Heimarbeit als auch Telearbeit ein“, sagt eine Sprecherin des Unternehmens.

Firmen, die selbst in der Pflege tätig sind, wie der Dienstleistungskonzern Dussmann oder der Krankenhauskonzern Charité bemühen sich ebenfalls, ihren Mitarbeitern die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf über flexible Arbeitszeitmodelle zu erleichtern.

Dass es sich für die Unternehmen auszahlt, sich in diesem Bereich zu engagieren, zeigen die Berechnungen des Instituts für sozialwissenschaftlichen Transfer. Demnach liegen die Kosten, die in deutschen Betrieben durch die schlechte Vereinbarkeit von Pflege und Beruf entstehen, bei rund 19 Milliarden Euro pro Jahr. Sie kommen unter anderem zustande durch Fehlzeiten, erhöhten Krankenstand, verminderte Produktivität oder Fluktuation. „Die gute Nachricht ist, dass es möglich ist, diese Kosten deutlich zu reduzieren“, sagt Pfahl.

Hinzu kommt der Fachkräftemangel, der den Wettbewerb um gute Arbeitskräfte verschärft. Deshalb müssten die Unternehmen sich dringend mit der Pflege beschäftigen, sagt Bähr von Berlin Partner. „Sonst können sie Fachkräfte nur schwer halten oder neu gewinnen.“ Denn die meisten Menschen, die Angehörige pflegen, wollen nicht aus dem Beruf ausscheiden, sondern beides unter einen Hut bekommen. „Die Berufstätigkeit muss erhalten werden“, sagt Svenja Pfahl. Neben dem finanziellen Bedarf sei das ein wichtiger Ausgleich zur Pflegetätigkeit.

Thomas E. hat nach langer Suche einen Platz für seinen Vater in einem Pflegeheim gefunden. Heute lebt und arbeitet er in Berlin. Der Unterstützung seines neuen Arbeitgebers hat er sich vergewissert: „Es gäbe flexible Lösungen, wenn es in meiner Familie einen weiteren Pflegefall gäbe.“

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