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Wirtschaft: Ilse Zabel

Geb. 1914

Sie im Außendienst, Anneliese, ihre Schwester, im Innendienst. Ilse Zabel konnte kaum mehr reden, wollte kaum mehr reden. Sie lag zu Hause, lebensmüde, altersschwach. Ihr Blick suchte immer wieder das Bild neben ihrem Bett: Anneliese, die Schwester. Heute war ihr Geburtstag. Blumen sollten aufs Grab, Astern. Blumen und Astern – die zwei Worte hatte sie gestern noch sprechen können.

Anneliese war vor drei Monaten gestorben. Daheim, im Bett, zu den Klängen des „Bummelpetrus“, gespielt von André Rieu. Auch Ilse wollte unbedingt daheim sterben, das war ihre größte Sorge nach dem Tod der Schwester.

Seit 1917 wohnte die Familie in der Wohnung. Damals war der Vater, Zeugwart im Rang eines Majors, von Straßburg nach Berlin versetzt worden.

Seit der Zeit hat sich wenig verändert, Küche mit Kochmaschine, Mädchenkammer, Nachttopf – „man weiß ja nie“ – und der prachtvolle Kachelofen. Alles vorhanden. Nichts wurde je entsorgt: Die Zeugnisse der Eltern, aufbewahrt so sorgfältig wie alte BVG-Scheine oder die Tagebücher in Kalenderform. Nichts Spektakuläres war da notiert.

Keine großen Reisen mehr in den letzten Jahren. Gelegentlich eine Kunstausstellung und die Oper natürlich. Früher war Ilse viel gereist, schon von Berufs wegen. Stenotypistin und Übersetzerin, erst in deutschen, dann in britischen Militärdiensten. Bis auf Australien hat sie alle Kontinente gesehen. Und eine Menge Fotos von Verehrern gesammelt, aber keinen von ihnen hat sie je erhört. Die Ruhe daheim war ihr wichtiger.

Ilse blieb auch nach der Pensionierung die Schwester im Außendienst: Einkaufen, Gästebetreuung, Behördengänge, das war ihr Metier.

Anneliese, die große Schwester, war im Innendienst. Sie hatte im Haus das Sagen, sie war ohnehin die Resolutere. Zumal sie Eheerfahrung hatte. Mit einem Bauern in der Prignitz. Das Kind starb bei der Geburt, die Ehe wurde geschieden. Und die Schwestern wohnten wieder zusammen.

Allerdings am jeweils äußeren Ende der Wohnung, weil Ilses Geschnarche nicht zu ertragen war. Und umgekehrt, wenn Anneliese zu laut und zu herrisch wurde, hat sich Ilse ihrer Schwerhörigkeit besonnen und fragend die Hand ans Ohr gelegt.

Aber Streit gab es selten, alles ging seinen geregelten Gang. Mittag halb zwölf, Kaffee halb vier, halb sechs Abendessen. Das wurde sehr ernst genommen. Und ungnädig nahm man zur Kenntnis, wenn geladene Gäste sich nicht daran hielten.

Man selbst achtete ja auch auf Etikette. Keine Feier im Freundes- und Familienkreis, die nicht besucht wurde, in adretter Aufmachung, versteht sich.

Dem Feiern waren die beiden ohnehin nicht abgeneigt. Dann durfte es gern auch mal ein Klarer sein, in Maßen natürlich. Feine Damen eben, mit durchaus gutem Appetit, auch wenn sie sich auswärts selten etwas gegönnt haben.

Wenn sie nachmittags den Ku’damm entlangspazierten, mit Handtäschchen und Hut, dann gab es viel neugieriges Blicken, aber kein Einkehren, dafür fehlte das Geld.

Das, was sie hatten, spendeten sie lieber. Alles Queerbeet, mal zehn, mal fünfzehn Euro, Dritte Welt hier, Rotes Kreuz da, und natürlich die Verwandtschaft.

Auch deswegen hatten die beiden immer viel Besuch – jeder, der kam, zog mit einem Schein ab. Kleine Summen, die sich zu einem Millionenbetrag addierten. Denn nach der Wende hatten die beiden ein Haus in Prenzlauer Berg geerbt. Der Erlös aus dem Verkauf floss in den Welt- und Verwandtschaftsversorgungsfonds. Außendienstlerin Ilse ging regelmäßig zur Bank, hob bares ab, und dann wurde diskret verteilt.

Darum gab es nie Streit, denn, da waren sie sich einig, für den Himmel muss man nichts aufsparen. Ilse und Anneliese, preußische Töchter eben, mit festen Standpunkten, die ohne einander nicht konnten, selbst im Tod nicht.

An diesem 26. August, dem Geburtstag ihrer Schwester ließ sich Ilse gegen 18 Uhr Rieus „Bummelpetrus“ auflegen, schloss die Augen und schlief friedlich ein. Sie wusste genau, was sie nach dem Tod erwartet: „Petrus schließt den Himmel zu, alle Englein gehn zur Ruh, nur der schlaue Petrus wacht, weil der alte Bengel heut’ mit einem Engel einen kleinen Bummel macht.“

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