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Wirtschaft: IM INTERVIEW: "Der Rechtsstaat kommt, wenn der letzte Ganove satt ist"

Wolfgang Kartte: In Rußland liegt das Geld noch immer auf der Straße / Deutschland braucht eine menschenfreundliche MarktwirtschaftDas Gespräch führt Gerd AppenzellerTAGESSPIEGEL: Herr Professor Kartte, Sie beraten seit fünf Jahren die russische Regierung auf dem Weg in die Marktwirtschaft.Wenn Sie jetzt an der Jahreswende die Bilanz dieses halben Jahrzehntes ziehen ­ wie sieht die aus?

Wolfgang Kartte: In Rußland liegt das Geld noch immer auf der Straße / Deutschland braucht eine menschenfreundliche MarktwirtschaftDas Gespräch führt Gerd Appenzeller

TAGESSPIEGEL: Herr Professor Kartte, Sie beraten seit fünf Jahren die russische Regierung auf dem Weg in die Marktwirtschaft.Wenn Sie jetzt an der Jahreswende die Bilanz dieses halben Jahrzehntes ziehen ­ wie sieht die aus? KARTTE: In einem Satz gesagt ­ Rußland ist auf dem richtigen Weg, aber der Weg ist sehr, sehr steinig.Wir haben gerade jetzt wieder so eine depressive Phase.Es sind ja fast alles Mittelständler, die sich da mit eigenem Geld engagiert haben und die jetzt frustriert sind.Das liegt nicht an den russischen Arbeitern, die sind ordentlich.Aber die Rahmenbedingungen sind ein Problem.In Rußland gab es erst einen tollen Aufgalopp der Reformen ­ erinnern Sie sich nur an die Preisfreigabe zur Jahreswende 1991 / 92, oder die Privatisierung, die Mitte 1992 begann, da war ich ja schon mit dabei.Aber dann war irgendwann Stillstand, und seitdem stagniert alles ... TAGESSPIEGEL: Warum stagniert alles? KARTTE: Es stagniert, weil Rußland es nicht schafft, diesen Aufgalopp in eine Konsolidierung der Marktwirtschaft umzusetzen.Man hat zwar privatisiert und die Preise freigegeben, aber man hat nicht dafür gesorgt, daß ein funktionsfähiger Markt entstand.Wir haben in Rußland immer noch wahnsinnige Monopole, aber es sind jetzt privatisierte Monopole.Man hat auch nichts für die Rahmenbedingungen getan ... TAGESSPIEGEL: Was meinen Sie damit? Das Steuerrecht? KARTTE: Ja, das auch.Dann die Zölle.Das alles ist für Unternehmer nicht handhabbar.Nehmen Sie als Beispiel einen der deutschen Mittelständler, der da investiert hat.Der erzählt mir: Mein Laden läuft gut, die Arbeiter arbeiten.Ich habe meine deutschen Werkmeister, alles klappt bestens.Aber nun brauche ich ein Ersatzteil.Das liegt in Moskau im Zoll-Lager und die geben das nicht raus.Das geht eine Woche so oder zwei Wochen.Der Betrieb stagniert, ich kann nicht mehr produzieren.Oder, anderes Beispiel: Ganze Lastwagen verschwinden.Sie sehen also zwei Konfliktpunkte: Die unkoordinierte Politik gegenüber Investoren und die Kriminalität, die Bandenkriminalität, die Mafia, die Korruption. TAGESSPIEGEL: Ist die kriminelle Energie derer zu groß, die in der russischen Wirtschaft nun frei schalten und walten können, oder ist der Staat einfach unfähig, für die nötigen Sicherheitsstrukturen zu sorgen? KARTTE: Ich glaube, es liegt an etwas anderem.Man darf die Russen auch nicht zu schlecht wegkommen lassen.Die waren ja wirklich arm dran.Wir hatten in der DDR 40 Jahre sozialistische Staatswirtschaft, die Russen mußten das 70 Jahre erdulden, und die Zaren davor waren ja nun auch nicht gerade Förderer einer freien Wirtschaft.Rußland hatte nur vor dem Ersten Weltkrieg eine kurze Gründerzeit.Es gab also eigentlich nie eine typische bürgerliche Gesellschaft.In diese Entwicklung paßt, daß in Rußland eigentlich auch nie jemand gewohnt war, Steuern zu zahlen.Wenn die Leute das auch heute nicht tun, ist das nicht einfach nur Bockigkeit.Es fehlt den Menschen einfach jedes Unrechtsbewußtsein dabei.Die Vorstellung, der Staat könne einfach Steuern kassieren, wird von den meisten Menschen als Raubzug des Staates empfunden, gegen den sie sich wehren.Soviel also zum Thema Gerechtigkeit.Das ist in Rußland im Moment so eine Art von Cowboy-Kapitalismus, wie er immer entsteht und entstanden ist, wenn eine völlig freie Marktwirtschaft eingeführt wird.Das war in Amerika nicht anders. TAGESSPIEGEL: Aber wie kann das denn weitergehen? KARTTE: Ich glaube, daß in Rußland einfach noch nicht alles verteilt ist.Der Rechtsstaat wird dann kommen, wenn, ich sage es mal ganz brutal, der letzte Ganove satt ist.Der ruft dann den Rechtsstaat aus, weil er sagt: Jetzt will ich es aber auch behalten.In Rußland liegt das Geld für jemanden, der Ideen, Phantasien und keine Hemmungen hat, immer noch auf der Straße.Solange das so ist, hat der Rechtsstaat keine Chance. TAGESSPIEGEL: Lassen Sie uns den Blick einmal Richtung Westeuropa werfen.Sie haben die Idee einer menschenfreundlichen Marktwirtschaft für Europa entwickelt.Was meinen Sie damit? KARTTE: Ich habe ja Ludwig Erhard noch gekannt, und auch er hat mich zur Kenntnis genommen, ich durfte an den beiden Festschriften für ihn mitwirken und habe dabei übrigens auch über Marktwirtschaft in Rußland geschrieben.Ich glaube, daß Erhard mit seiner Vorstellung einer sozialen Marktwirtschaft einen Mittelweg zwischen Kapitalismus und Sozialismus gemeint hat.Erhard wollte keinen reinen Kapitalismus.Er war auch nicht in dem Sinne ein Liberaler, daß er alles freimachen, entfesseln wollte, sozusagen ergebnisoffen, wie man bei Hajek nachlesen kann.Erhard wollte Wohlstand für alle.Er wollte eine breite Mittelschicht, wie sie sich ja dann in den fünfziger und sechziger Jahren auch herauszubilden begann.Das war ein breiter Wohlstand.Das ist für mich die menschenfreundliche Marktwirtschaft, die vom Kapitalismus den Markt übernimmt, den wir nicht verfälschen dürfen. TAGESSPIEGEL: Und heute ist der Markt verfälscht? KARTTE: Ja, dafür sind die Sozialpolitiker aller Parteien in den vergangenen Jahren verantwortlich.Sie haben die Marktwirtschaft an den Rand des Ruins gebracht.Das müssen wir alles neu justieren.Aber ich will eben nicht hin zu diesem Brutalo-Kapitalismus.Wir müssen auch weg von der Staatswirtschaft.Was man jetzt in Hannover gehört hat, zum Beispiel bei Oskar Lafontaine, diese Ideen aus den sechziger Jahren, das geht natürlich nicht.Wir brauchen den Mittelweg.Wir brauchen einen großen europäischen Markt mit einer menschenfreundlichen Gesellschaft.Ich möchte eine Marktwirtschaft, zu der auch Muße und Müßiggang gehören dürfen.Das wollen wir alle, das wollen die Russen auch.Deshalb bin ich für einen großen europäischen Markt von Lissabon bis Wladiwostok.Das ist natürlich zunächst nur eine Idee. TAGESSPIEGEL: Aber in diesem großen Markt müßten, was Steuern, Tarife und Löhne betrifft, in etwa gleiche Bedingungen herrschen, damit Ihre Vision eine Chance auf Verwirklichung hat. KARTTE: Wissen Sie, ich glaube, daß wir nicht ganz ohne Protektionismus auskommen werden.Bei einem vollkommen offenen Markt landen die Arbeitsplätze letztlich bei den Eskimos.Das geht eben nicht.Die Amerikaner sind ja auch nicht völlig protektionismusfrei, wenn es um den Schutz ihres eigenen Heimatmarktes geht.Die Predigten über "free trade", die sie halten, sind ja meistens für die anderen bestimmt.In dem Sinne heißt "free trade" ja, das man sehr günstig an die Rohstoffe kommt und dann die fertigen Produkte für gutes Geld in die rohstoffexportierenden Länder zurückpumpen kann.Einen sanften Protektionismus wie den heute in Amerika, das nehme ich gerne als Grenze, den werden wir zum Schutz der eigenen Märkte immer brauchen, auch in Europa.Was würde der völlig freie Markt denn zum Beispiel den Russen bringen? Sie müßten hundert Jahre lang alles aus dem Westen importieren und würden nie eine eigene Produktion auf die Beine stellen können.Friedrich List, der Vater des deutschen Zollvereins, hat schon gesagt: Wenn wir uns nicht vor den billigen Textil- und Stahlimporten aus England schützen, können wir nie eine eigene deutsche Wirtschaft aufbauen.Es geht einfach nicht ganz ohne Zölle. TAGESSPIEGEL: Das heißt, die Festung Europa wird es eben doch in irgendeiner Form geben? KARTTE: Aber nein, Festung doch nicht in dem Sinne, daß wir uns abschotten.Das meine ich nicht.Das ginge auch gar nicht. TAGESSPIEGEL: Wie dann? Sind es die Rezepturen von Gerhard Schröder, nach denen man die deutsche Wirtschaft gestalten kann? KARTTE: Die Sozialdemokraten gehen grundsätzlich von falschen Voraussetzungen aus, weil sie immer den Staat als den Macher ansehen.Wir können unsere soziale Marktwirtschaft nur retten und ein Zukunftsprinzip daraus machen, wenn wir den Staat aus der Wirtschaft heraushalten.Ich bin der Meinung, daß der Staat in der Wirtschaft nichts zu suchen hat.Der Politiker entscheidet nur unter Machterhaltungsgesichtspunkten.Ich habe das auch in meiner Zeit beim Bundeskartellamt immer wieder gesehen, wenn der Staat sich eingemischt hat in die großen Zusammenschlüsse.Denken Sie nur an Daimler und MBB.Das war eine reine Machterhaltungssache.Wir kennen doch die Politiker, die da engagiert waren, Franz-Josef Strauß und der damalige Bundeswirtschaftsminister Bangemann, der auf den Zusammenschluß sehr gedrängt hat ... TAGESSPIEGEL: ...und der ihn mit der Ministererlaubnis ja dann auch möglich gemacht hat ... KARTTE: Ja, ich sage auch nicht, daß diese Gesichtspunkte illegitim sind.Aber man muß sich eben klarmachen, daß der Staat niemals in ökonomischen Kategorien denkt, sondern nur in denen der Macht.Natürlich geht es in der Wirtschaft auch manchmal um Machterhalt.Aber man darf eben nicht, wie die SPD, wie Schröder, immer Väterchen Staat im Hintergrund sehen.Wir brauchen in der Wirtschaft free trade, freien Handel und dann können wir ein bißchen korrigieren, können Transferzahlungen vornehmen.Aber wir dürfen niemals die Marktmechanismen verfälschen. TAGESSPIEGEL: Welche Rolle im Verhältnis zu den Bürgern geben Sie denn dem Staat? KARTTE: Ich habe nichts gegen den Staat, aber er soll sich auf seine ureigenen Aufgaben begrenzen.Unsere Regulierungswut tötet unternehmerische Initiative, die Fürsorge für alle nur denkbaren Randgruppen ehrt uns, wir brauchen aber auch freie Fahrt für die Tüchtigen.Und im öffentlichen Dienst kann nicht genug privatisiert werden.Die Crux ist, daß unsere Parlamente mehrheitlich mit Administratoren besetzt sind, die von der Bürokratie leben.

Das Gespräch führt Gerd Appenzeller

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