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Atomausstieg bis 2022. Für Michael Vassiliadis ist der Plan von Rot-Grün „die Referenz“. Foto: Oliver Tjaden/laif

© Oliver Tjaden/laif

Im Interview: Gewerkschaftschef Vassiliadis: „Verzichten wir auf Kernkraft, brauchen wir Ersatz.“

Michael Vassiliadis, Chef der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie, über Politik, Atomkraftwerke und Strompreise.

Herr Vassiliadis, warum heißt die Atomkommission „Ethikkommission“?

Im ersten Augenblick habe ich mich auch darüber gewundert. Aber eine sichere Energieversorgung gibt es tatsächlich nur, wenn gleichzeitig die damit verbundenen sozialen und ethischen Fragen beantwortet werden. Zum Beispiel: Wie viel Risiko ist eine Gesellschaft bereit einzugehen für preisgünstige Energie?

In der Kommission sitzen drei Vertreter der Kirchen, aber mit Ihnen und dem BASF-Chef nur zwei Männer aus der Wirtschaft. Was hat das zu bedeuten?

Zur Zusammensetzung der Kommission müssen Sie das Kanzleramt befragen. Die Wirtschaft ist sicherlich nicht überrepräsentiert.

Befürchten Sie, dass die Belange von Unternehmen und Gewerkschaften übergangen werden könnten?

Diese Sorge habe ich nicht. Es ist allerdings zu klären, wie wir uns dem Thema einer sicheren Energieversorgung nähern. Nach Fukushima stand die Gefahr einer Katastrophe im Vordergrund. Mittlerweile ist es gelungen, von einer emotionalen Perspektive wieder zu einer realistischen Sichtweise und zu einer pragmatischen Ebene zurückzufinden. Das geht auch nicht anders in einem Prozess, in dem Risiken und Chancen abzuwägen sind, um langfristig zu einer sicheren, umweltfreundlichen und wettbewerbsfähigen Energieversorgung zu kommen.

Sie haben jüngst „Illusionen und Irrationalität“ in der öffentlichen Debatte beklagt.

Für die Kommission gilt das nicht. Die Bereitschaft zur sachlichen Diskussion von Zielkonflikten, die bei allen möglichen Szenarien zu lösen sind, ist da. Öffentlichkeit und Politik haben einen Anspruch darauf, dass die Kommission solche Zielkonflikte aufzeigt. Das kann Entscheidungen vorbereiten und erleichtern, die dann allerdings von der Politik zu treffen sind.

30 Vertreter aus Unternehmen und anderen Institutionen haben sich bei einer Anhörung der Kommission geäußert. Ist bei der Vielzahl der Interessen und Auffassungen überhaupt ein Konsens machbar?

Das Spektrum ist in der Tat groß, wenn eine Anhörung mit dem Eon-Chef beginnt und mit einem Vertreter von Brot für die Welt endet. Es gibt einige unversöhnliche, völlig widersprüchliche Positionen, aber auch Übereinstimmungen beim beabsichtigten Umstieg von der Kernkraft zu erneuerbaren Energien. Die Frage ist, wie lange wir noch eine Brücke aus fossilen Energieträgern brauchen.

Wann ist der früheste Ausstiegstermin?

Es wird eher um einen zeitlichen Korridor gehen. Wir müssen uns auf den Weg machen, aber an festgelegten Stationen immer wieder überprüfen, ob wir richtig unterwegs sind, ob die Annahmen zum Ausstieg sich als realistisch erweisen. In einem unabhängigen Monitoring wird dann beispielsweise zu klären sein: Bleibt der Ausstieg kompatibel mit den Klimazielen? Wie entwickeln sich die Ersatzkapazitäten? Wie schnell werden die erneuerbaren Energien grundlastfähig? Für all das sind Innovationen Voraussetzung, die es vielleicht morgen oder übermorgen, aber noch nicht heute gibt.

Welches Datum wird die Kommission denn vermutlich vorschlagen?

Das ist offen. Für mich aber war immer der von der rot-grünen Regierung festgelegte Ausstiegstermin 2022 die Referenz.

Sie setzen statt auf Atom auf Kohle und Gas. Wie wollen Sie Akzeptanz für die besonders klimaschädliche Kohle gewinnen?

Wenn wir auf Kernkraft verzichten, brauchen wir Ersatz. Gas setzt weniger CO2 frei, ist aber vergleichsweise teuer. Versorgungssicherheit und einigermaßen Preisstabilität gibt es nicht ohne grundlastfähige Kohlekraftwerke. Derzeit sind drei moderne Kraftwerke genehmigt oder im Bau. Wenn noch ein oder zwei als Ersatz für alte Braunkohlekraftwerke dazukämen, dann wäre das auch eine Entlastung für das Klima. Ich will keinen Glaubenskrieg um die Kohle. Aber die Kohle 1:1 mit der Kernenergie zu vergleichen, wie beispielsweise Greenpeace das macht, ist völlig unsachlich.

Die neuen Kohlekraftwerke verpesten dann womöglich noch 2060 die Luft.

Nicht zwingend. Bei neuen Kraftwerken könnte über Rückstellungen und/oder politische Flankierung eine vorzeitige Stilllegung ermöglicht werden. Also dann, wenn die Kohle tatsächlich nicht mehr gebraucht wird. Im Übrigen halte ich es auch ethisch für sehr fragwürdig, alte Kraftwerke weiterlaufen zu lassen, statt neue zu bauen. Wer das vorschlägt, wie einige Umweltverbände, lässt die höhere CO2-Belastung völlig außer Acht.

Strom wird teurer, und Sie fordern bereits eine Kompensation für die energieintensiven Industrien. Wie soll die aussehen?

Unternehmen, die viel Energie verbrauchen, werden schon seit Jahren immer neuen Belastungen ausgesetzt: Ökosteuer, das Erneuerbare-Energien-Gesetz, Emissionshandel, der Ausstieg aus der Kernkraft. Das verträgt sich nicht mit der Planungssicherheit für Investitionen. Dabei sind Investitionen auch die Voraussetzung für eine höhere Energieeffizienz.

Womöglich produzieren die großen Stromschlucker nicht mehr zeitgemäß.

Wir sollten uns die CO2-Bilanz der Firmen anschauen und die Unternehmen mit einer positiven Bilanz fördern statt sie noch zu bestrafen. Das gilt zum Beispiel für einige Chemiekonzerne.

Wie das?

Die BASF hat mit wissenschaftlichen Gutachten nachgewiesen, dass ihre Produkte dreimal mehr CO2 einsparen, als bei deren Herstellung freigesetzt wird. Das ist ein wichtiger Beitrag zur Energieeinsparung und zur Entlastung des Klimas. Die BASF produziert zum Beispiel Dämmstoffe zur besseren Wärmeisolierung von Gebäuden. Es ist doch vollkommen widersinnig, diese Form von Klimaschutz zu erschweren. Um Fehlsteuerung zu vermeiden, muss man sich die CO2-Bilanz eines Unternehmens einschließlich seiner Produkte ansehen.

Also Energiesubventionen für BASF?

Im Kern geht es darum, den Energieeinsatz in der Industrie auch als gesellschaftliche Investition in Innovationen zu sehen. Das gilt natürlich nicht für alle Industrien, aber für viele. Die Doktrin der letzten Jahre, wonach jeder hohe Energieverbrauch per se schlecht ist, führt jedenfalls in die Irre. Denn wir brauchen insbesondere die Industrien, um die Energiewende zu schaffen. Und deshalb muss Industriestrom auch zu wettbewerbsfähigen Preisen bereitgestellt werden.

Industriepräsident Keitel befürchtet einen Anstieg der Strompreise um mehr als 200 Prozent, wenn der Atomausstieg zu rasch erfolgt. Welche Steigerung ist verkraftbar?

Allein die Chemie verbraucht acht Prozent des gesamten Stroms. Und der Anteil der energieintensiven Industrien am Industriestrom beträgt mehr als 50 Prozent. Das Thema ist also sehr ernst, aber Keitels Rechnung halte ich für überzogen. Fast noch wichtiger als der Preis: Was wir in den kommenden Monaten beschließen, muss länger halten als die nächsten drei Jahre. 2015 darf es nicht die nächste Energiedebatte geben.

Am 28. Mai legt die Kommission ihre Empfehlung vor. Was passiert bis dahin?

Vom 13. bis zum 15. Mai treffen wir uns zur Klausur. Bis dahin liegt auch der Bericht der Reaktorsicherheitskommission vor, und ich denke, dass wir dann die Grundstruktur unseres Berichtes festlegen können. Dabei sollte die Kommission dem Parlament keine Empfehlungen über das Wie und das Was geben. Das ist Sache der Politik. Wir können nur sagen, welche möglichen Sackgassen wir sehen, welche offenen Fragen und Zielkonflikte. Mit Sicherheit kommen wir nicht zu einer Empfehlung „Ausstieg sofort“. Vermutlich werden wir mehrere Szenarien aufzeigen. Damit die Gesellschaft sich am Ende bewusst ist, welche auch finanziellen Folgen welcher Weg hat.


Michael Vassiliadis, 1964 in Essen geboren, wurde bei Bayer zum Chemielaboranten ausgebildet – in dem Werk, in dem auch sein aus Griechenland stammender Vater arbeitete. Seit 1986 arbeitet er hauptamtlich für die Gewerkschaft. IG-BCE- Chef Hubertus Schmoldt holte ihn 1997 in die Zentrale nach Hannover und baute ihn auf. Seit Ende 2009 führt Vassiliadis die Gewerkschaft. Nach der IG Metall und Verdi ist die IG Bergbau, Chemie, Energie mit rund 700 000 Mitgliedern die drittgrößte deutsche Gewerkschaft. In diesem Jahr handelte sie für die Chemiebranche eine Tariferhöhung von 4,1 Prozent aus. Vassiliadis pflegt einen kooperativen Stil und legt Wert auf Teamarbeit. Nach der Ära des „großen Vorsitzenden“ Schmoldt war das ein kleiner Kulturwandel. Das Gespräch mit Michael Vassiliadis führte Alfons Frese.

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