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Wirtschaft: Im Macho-Land Frankreich läuft Viagra schlecht

PARIS .Noch vor vier Wochen herrschte Alarmstufe rot in der Pfizer-Fabrik in Amboise.

PARIS .Noch vor vier Wochen herrschte Alarmstufe rot in der Pfizer-Fabrik in Amboise.Das 40 Hektar große Gelände im romantischen Tal der Loire glich einer Festung: Stacheldrahtzäune, Eisengitter und Wachleute wehrten Neugierige ab.Das Heiligtum, die Produktionshalle der neuen Potenzpille Viagra, blieb auch Journalisten verschlossen.Niemand sollte das Wundermittel vor der Markteinführung sehen, Fotografieren war streng verboten.

Heute herrschen lockerere Sitten in Viagraland.Werksdirektor Jean Lhoste hat sich damit abgefunden, daß alle Besucher nur das eine wollen.Gleich zu Beginn der Visite zieht er eine Viagra-Packung aus der Jackentasche."Beachten Sie das fälschungssichere Hologramm auf der Schachtel und die Form der Pillen.Sehen sie nicht aus wie Diamanten?" Er lächelt wie ein Goldgräber."Wenn ich Sie nun zur Besichtigung bitten dürfte."

In der Halle weist nichts auf besondere Sicherheitsmaßnahmen hin.Der Besucher bekommt eine weiße Jacke verpaßt, ein Haarnetz, Überzieher für die Schuhe - business as usual in einer Pharmafabrik.Nur die sorgsam versiegelten Säcke und Schachteln mit Rohstoffen und Endprodukten machen stutzig.Die Herstellung selbst ist voll automatisiert, viel zu sehen gibt es nicht.Hier und da liegen ein paar der blauen, rautenförmigen Pillen herum.So nackt, ohne Verpackung, erinnern sie an viele, viele bunte Smarties.

"Nein, ich habe selbst noch nicht davon gekostet", sagt Lhoste."Ich halte mich an unsere Devise: Viagra ist ein Medikament, kein Aphrodisiakum." Nur etwas für Patienten mit Erektionsstörungen."Und selbst dann funktioniert es nur, wenn der Mann Lust hat", sagt Lhoste.Alles andere seien Übertreibungen der Medien.Überhaupt, die Medien.Viele Berichte hätten falsche Erwartungen und Angst geweckt.Für "völlig verrückt" erklärt Lhoste jene Börsen-Analysten, die dem US-Konzern Pfizer eine Verzehnfachung des Umsatzes prophezeit hatten.Realistisch sei 1998 ein weltweiter Viagra-Umsatz von einer Mrd.Dollar, heißt es in Amboise.

Womöglich ist selbst diese Zahl noch übertrieben.Denn kurz nach der Markteinführung im Oktober läuft der Verkauf in Europa lustlos.Abgesehen von der Schweiz, wo sich Touristen schon im Sommer um die Potenzpille rissen, bleibt die Nachfrage hinter den Erwartungen zurück.Ein Run wie in den USA ist in Frankreich ausgeblieben.

In Amboise macht man sich dennoch keine Sorgen um das neue Top-Produkt.Von Kurzarbeit ist bei der französischen Fabrik, die neben Europa auch den Nahen Osten, Südafrika und Rußland mit mehreren Millionen Potenzpillen versorgt, keine Rede.Die Viagra-Produktion laufe Tag und Nacht, berichtet Lhoste.Wegen der forcierten Produktion wurde Ende Oktober gestreikt; am Ende zahlte Pfizer Prämien von 3000 Franc (900 Mark) an die gestreßten Mitarbeiter.

"Wissen Sie, Viagra ist ein bizarres, ungewisses Produkt", sagt Lhoste philosophierend."Niemand kennt den Markt, Erektionsstörungen wurden bisher ja völlig totgeschwiegen." Also sei es auch kein Wunder, daß der Verkauf schlaff starte.Von zwei Millionen potentiellen Kunden in Frankreich hätten bisher erst einige tausend zugegriffen."Im Grunde ist es sogar besser so.Wir wollen eine vernünftige Markteinführung, keine Explosion."

Erweist sich die Pille für den Mann am Ende als Ladenhüter, der bestenfalls von Alten, Kranken und Reichen gekauft wird? Bernard Debré, Urologie-Professor am Pariser Krankenhaus Cochin, ist vom Gegenteil überzeugt."Wir werden einen regelrechten Wettlauf der Potenzpillen erleben." Bisher habe er das Mittel zwar nur an Zuckerkranke und Patienten mit Prostatakrebs verschrieben.Doch es werde sich nicht verhindern lassen, daß der "Erektions-Verstärker" bald auch in Diskotheken und Bars auftauche.Spätestens wenn neue, Viagra-ähnliche Moleküle auf den Markt kämen, brächen alle Dämme.

Was dann passiert, malt Debré in düsteren Farben aus.Gewiß, für "Männer eines gewissen Alters" wäre die neue Ära eine gute Sache.Die Kehrseite sei, daß "alle und alles gedopt" würden.Debré denkt nicht nur an Sexualverbrecher, sondern auch an so unverdächtige Gruppen wie junge Leute und alte Paare.Die Jungen könnten sich an Potenzpillen ebenso gewöhnen wie an eine Droge.Alte Paare könnten darunter leiden, daß der Mann wieder zu ungestümer sexueller Aktivität erwacht."Das kann Ehen kaputtmachen", warnt Debré."In den USA hat es deshalb schon Prozesse gegeben." Doch das ist längst nicht alles.Debré, der einst Präsident François Mitterrand an der Prostata operierte, holt noch weiter aus."Mit Viagra zieht eine neue Menschenrasse herauf, der homo scientificus", prophezeit der Professor.Heute könne man die Potenzpille problemlos ignorieren.Doch morgen schon, "wenn Sie alt sind, wenn Sie krank sind, wenn Ihre Frau besondere Ansprüche stellt", könnte das ganz anders aussehen.Gemeinsam mit der Genmanipulation, pränataler Geschlechtswahl und ähnlichen Medizintrends entfalte Viagra einen Sachzwang, dem sich niemand entziehen könne.

Doch wenn die amerikanische Wunderpille unser Schicksal ist, warum leisten französische Männer dann noch Widerstand? Debré runzelt die Stirn, dann entspannt sich sein Gesicht."Wissen Sie, das ist ganz einfach.Frankreich ist ein Macho-Land, die Franzosen sind stolz auf ihren Ruf als Latin Lover.Die meisten trauen sich einfach noch nicht, Viagra zu kaufen."

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