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Immobilien: Attraktion in Schräglage

Ein unorthodoxes Sozialbauprojekt in Lichtenberg sorgt für DiskussionenVON GERHARD WISTUBAInmitten des S-Bahndreiecks Ostkreuz, Nöldnerplatz und Rummelsburg, wischt sich der Betrachter verwundert die Augen.Vorerst vermag er der eigenen Beobachtung nicht zu trauen.

Ein unorthodoxes Sozialbauprojekt in Lichtenberg sorgt für DiskussionenVON GERHARD WISTUBAInmitten des S-Bahndreiecks Ostkreuz, Nöldnerplatz und Rummelsburg, wischt sich der Betrachter verwundert die Augen.Vorerst vermag er der eigenen Beobachtung nicht zu trauen.Hier stehen die Fassaden schief - beängstigend schief.Sie neigen sich zur Seite und nach hinten.An einer Stelle lugt gar eine Fassade hinter der anderen hervor.Die Bebauung sieht aus wie ungeordnete Spielkarten in der Hand eines Skatspielers. Die schräge Architektur geht auf das Konto des österreichischen Baumeisters Werner Wöber.Er entwarf in der Nöldnerstraße sechs Wohnhäuser.Doch der Österreicher war während der Planung der Neubauten nicht alkoholisiert, wie er selbst versichert.Vielmehr schaffe seine Baukunst "Lust auf das Wohnen", behauptet er.Und das trotz der tristen Umgebung im einstigen Brachland, eingeklemmt zwischen S-Bahnlinien. Der Ort verlangt den Bewohnern einiges ab.Der Radau im Freien ist gewaltig.Im Zehn-Minuten-Takt rauschen die Züge vorbei.Dazu kommt das Kopfsteinpflaster in der Karlshorsterstraße.Wohnungen an diesem Verkehrsknotenpunkt? Da mußte schon ein hoher Aufwand betrieben werden, um solch ein Gebiet bewohnbar zu machen.Dennoch ist der, der durch den Hinterhof flaniert, verwundert, wie ruhig es hier ist.Allein durch die kluge Bebauung im Hinterhof wird ein Hauptteil des Schalls abgefangen.Die Fluchttreppe, eine breite hohe Wand, schirmt vor allem das Haus Eins gegen die vorbeirauschenden S-Bahnlinien S 5, S 7 und S 75 ab.Auch der Reihenhausblock im Hinterhof trägt hier seinen schützenden Teil bei. Wären aber die Fenster nicht mit schwerem Glas, Schallschutzklasse Vier, bestückt, würde trotz der schützenden Wände ein Höllenlärm besonders in den höher gelegenen Wohnungen herrschen.Doch so dringt nur ein leises Rauschen von den S-Bahngleisen herüber - zumindest bei geschlossenen Fenstern. Ob die überhängenden Fassadenecken nicht einmal auf die Straße stürzen? Alle Beteiligten am Bau reagieren auf diese Frage mit heftigem Kopfschütteln.Der Polier Bruno Learche weiß es genau: "Ein bißchen mehr Stahlbeton ist drinne, und fast alle Innenwände sind tragende Wände".Normalerweise lastet das Gewicht nur auf den Außenwänden.Um aber ganz sicher zu gehen, packten die Statiker zusätzlich etwas mehr Eisen als üblich in die Decken. Die aufwendige Außenbebauung schlug sich auf das Gesamtbudget nieder.400 unterschiedlich geschnittene Fenster maßen die Handwerker in die windschiefen Fassaden ein.Was außen so aufwendig und teuer ist, sparten die Gestalter im Inneren wieder ein.Die kompliziert verschachtelten Häuserfronten verraten nichts von der einfachen Ausstattung der 74 Sozialwohnungen."Durch genaue Absprachen zwischen Architekt, Baufirma und Eigentümer konnte an den richtigen Stellen gespart und unnötige Ausstattung weggelassen werden", sagt Burkhard Schlothauer, Geschäftsführer der Eigentümergesellschaft Weitsicht.Die Badezimmer sind nicht bis unter die Decke verkachelt.Ausschließlich jene Stellen, die Spritzwasser abbekommen, sind geschützt.Gespart haben die Planer auch in den Treppenhäusern.Nur die waagrechten Treppenabsätze ziert Mamorstein.Zudem wurde auf das Verputzen der Wände verzichtet.Es wurden bloß die Fugen zwischen den Großblocksteinen geschlossen und die Wände weiß verspachtelt.Dem Laien fällt das gar nicht auf. Durch die strenge Kalkulation kostete der Quadratmeter zirka 4830 DM.Insgesamt investierte die Weitsicht 35 Mill.DM.Das liegt im Vergleich zu anderen Neubauten im Durchschnitt.1996 ging der Antrag auf Förderung bei der Investitionsbank Berlin (IBB) ein.In diesem Jahr lagen die Durchschnittspreise von förderfähigen Sozialbauten bei 4750 DM.Da auch alle Anforderungen an Schallschutz und Standardeinrichtungen erfüllt wurden, unterstützte die IBB das Projekt im ersten Förderweg.Die bewilligte monatliche Fördermiete liegt zwischen 22,72 und 25,72 DM pro Quadratmeter.Hiervon entfallen auf den Mieter pro Quadratmeter 8 DM monatlich. "Sozialer Wohnungsbau ist knallhart.In einer Metropole wie Berlin ist enges Wohnen an Verkehrsknotenpunkten nichts besonderes", sagt Architekt Wöber.So schlecht sind die Wohnungen dann doch nicht.Relativ geräumige und helle Ein- bis Dreizimmerwohnungen, zwischen 47 und 70 Quadratmeter groß,bieten einen traumhaften Blick nicht nur auf Bahntrassen, sondern auch auf den Rummelsburger See.25 Wohnungen sind auf die Bedürfnisse älterer Menschen zugeschnitten.Hier gibt es keine Schwellen, dafür breitere Türen sowie großzügig geschnittene Sanitärbereiche - wichtig für die Rollstuhlfahrer unter den Mietern.Insgesamt verfügen die Neubauten über 5203 Quadratmeter Wohnfläche.Die Wohnhäuser zur Straße hin sind zur Gänze vermietet.Bislang bezogen 40 Mieter Quartier.Nur die Dreizimmerwohnungen im Reihenhausblock sind noch frei.Hier schreckt wohl doch die S-Bahn ab.Die fährt nämlich höchstens fünfzehn Meter an der Rückwand der Reihenhäuser vorbei. Zusätzlich stehen 1513 Quadratmeter als Büro- und Gewerberäume zur Verfügung.Einen speziellen Nutzermix für die Gewerbeflächen strebt die Marketingabteilung von Weitsicht jedoch nicht an.Das Angebot der Gewerbetreibenden sollte den täglichen Bedarf der Bewohner decken.So versucht Weitsicht eine Bäckerei, einen Waschsalon und einen Fleischer für die Häuser anzuwerben.Zur Zeit verhandeln die Vermarkter mit einer Pizzeria.Die Chancen für eine Vermietung sind gut, denn direkt gegenüber befindet sich der Eingang zum S-Bahnhof Rummelsburg.Der sorgt für genügend Passanten - potentielle Kundschaft für das Gewerbe. Das Projekt beweist, daß Sozialwohnungen nicht notwendigerweise Architektur von der Stange sein müssen.Doch sollten alle Nutzer ein Quentchen Aufgeschlossenheit mitbringen.Denn nicht alle Ecken sind rechtwinkelig, und manche Fenster und Türen sind schief.Deshalb ist Vorsicht beim Aufstellen von Blumentöpfen angesagt - Rutschgefahr auf schiefen Fensterbrettern! Und die Gardinen? Wie soll der Mieter sie befestigen? Parallel zur Decke oder ausgerichtet am Fenster? Diese Fragen bereiten sicher vielen Leuten Schwierigkeiten.Wenn da nur nicht auch der Haussegen schief hängt.

GERHARD WISTUBA

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