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Der „Karl-Marx-Hof“ wurde 1930 nach drei Jahren Bauzeit auf schwierigem Gelände fertiggestellt.

© imago images / SKATA

Das "Rote Wien", ein Sozialexperiment: Zehn Prozent des Einkommens für die Miete

Im „Roten Wien“ begann vor 100 Jahren der soziale Wohnungsbau – die Genese einer mieterfreundlichen Stadt.

Das Programm für das Fest „100 Jahre Gemeindebau“ sah Blasmusik am Vormittag vor, nachmittags dann „Spieleshow“ und Pop-Musik und zum Abschluss eine Veranstaltung unter dem schönen Titel „Wiener Wahnsinn“. Aufgrund der sommerlichen Hitze waren am vergangenen Sonntag dennoch nicht allzu viele Besucher in die weite Freifläche vor dem Karl-Marx- Hof gekommen, den sogenannten „Ehrenhof“ vor dem mittleren Bauteil mit seinen drei mächtigen, bogenförmigen Durchfahrten. Das „rote Wien“, das es hier zu feiern galt, ist in die Jahre gekommen, das Empfinden dafür, wie außerordentlich die baulichen und sozialen Leistungen der damaligen Zeit waren und sind, hat sich verflüchtigt.

Neuanfang nach dem Ersten Weltkrieg

Vor 100 Jahren, so will es die Legende, begann gleich nach dem Ersten Weltkrieg und der Zersplitterung Österreich-Ungarns der soziale Wohnungsbau, für den der Begriff des „Roten Wien“ steht. „Rot“ war Wien, weil „die Roten“ – die Sozialdemokratische Arbeiterpartei – bei Gemeinderatswahlen stets die absolute Mehrheit der Stimmen errang. „Rot“ war es aber vor allem, weil es ausdrücklich Politik für die „kleinen Leute“ machte, für Arbeiter und Angestellte, dazu im Besonderen für Frauen und Kinder, für Alte und „Ausgesteuerte“, wie die aus der schmalen Absicherung herausfallenden Arbeitslosen genannt wurden. Kern dieser Politik war die Schaffung und Bereitstellung von Wohnraum.

Wohnung bedeutet Heimat

Sinnbildlich stehen dafür die „Höfe“, gemeindliche Wohnanlagen mit Dutzenden, Hunderten, in einzelnen Fällen bis weit über 1000 Wohnungen. Im Karl- Marx-Hof, 1930 fertiggestellt und damit unmittelbar, bevor die Weltwirtschaftskrise auch in Wien alle Bautätigkeit zum Erliegen brachte, fanden in 1325 Wohnungen, die an 98 (!) Aufgängen liegen, rund 5000 Menschen nicht nur Wohnung, sondern Heimat. Dieser Begriff kommt nicht von ungefähr. Im kaiserzeitlichen Wien mit seinem unbeschreiblichen Elend, in dem Mieter nicht den geringsten Schutz genossen, waren Umzüge und Zwangsräumungen an der Tagesordnung. Mit dem „Delogieren“ von Mietern, die naturgemäß den arbeitenden Schichten entstammten, sollte Schluss sein. Die Deckelung der Mieten auf die sogenannte „Friedensmiete“, also den Vorkriegspreis, die bereits 1917 eingeführt worden war, um den zunehmenden Unruhen der kriegsmüden Bevölkerung zu begegnen, wurde festgeschrieben. Wer eine Wohnung hatte, sollte ihrer sicher sein und bleiben. „Heimat“ sollte bewusst hergestellt werden, auch mit der Architektursprache der Höfe, die auf Erkennbarkeit und Geborgenheit gerichtet war.

Steuern für die Gemeinde

Die berühmte Wohnbausteuer, aus deren Aufkommen die Gemeinde Wien die nach dem Krieg stark entwerteten Grundstücke erwerben und sodann bebauen konnte, wurde tatsächlich erst Anfang 1923 eingeführt, nachdem Wien im Vorjahr die Steuerhoheit erlangt hatte. Finanzstadtrat Hugo Breitner, zuvor erfolgreicher Banker und dem assimilierten jüdischen Bürgertum der Hauptstadt zugehörig, schuf eine ganze Palette von weiteren „Luxussteuern“, auf Sekt, auf Autos wie auf Hausangestellte, um die nötigen Mittel zu erlangen. Tatsächlich waren die Einnahmen aus insgesamt 18 Sondersteuern denen aus der Wohnbausteuer zeitweise ebenbürtig. Breitner war Zielscheibe wütender und zunehmend offen rassistischer Angriffe von rechts; in solcher Atmosphäre musste sich das „rote Wien“ behaupten.

Bis zum Zusammenbruch der Bautätigkeit in der Weltwirtschaftskrise entstanden 382 Gemeindewohnbauten mit insgesamt rund 65 000 Wohnungen. Sie boten 220 000 Menschen Wohnraum. Die Mieten waren äußerst gering bemessen, sie sollten zehn Prozent des – ohnehin niedrigen – Einkommens einer Arbeiterfamilie nicht überschreiten und lagen meist noch darunter. Im Grunde handelte es sich um Betriebskostenumlagen, denn weder Grundstückserwerb noch Baukosten waren abzubezahlen, und Finanzierungskosten gab es – von den Anfängen nach 1919 abgesehen – ebenso wenig. Breitner lehnte übrigens noch in der Wirtschaftskrise die Aufnahme von Krediten für die Fortführung der Gemeindetätigkeiten ab, um künftige Generationen nicht zu belasten.

"Ringstraße des Proletariats"

Der Karl-Marx-Hof, vor dem jüngst die 100-Jahr-Feier stattfand, ist nur der berühmteste der Höfe; nicht zuletzt, weil er während des sogenannten Februaraufstandes von 1934, der tatsächlich ein Staatsstreich von rechts war, Ziel militärischer Angriffe mit zahlreichen Todesopfern war. Dass anschließend der Name „Karl-Marx-Hof“ verschwand, versteht sich. Allgemein wurden die Höfe entweder nach bedeutenden Persönlichkeiten benannt, darunter Lassalle oder Washington, oder aber nach ihrer geografischen Lage wie der Matzleinstaler Hof, der als erster großer Gemeindebau gilt und um den herum in den zwanziger Jahren eine ganze Reihe weiterer Höfe entstand. Speziell der an diesen Höfen entlangführende Straßenzug des „Gürtels“ wurde alsbald die „Ringstraße des Proletariats“ genannt, als bewusstes Gegenüber zur großbürgerlichen Ringstraße der Kaiserzeit. Fügen sich die dortigen wie überhaupt die meisten Höfe in den bestehenden Straßengrundriss ein, so bildeten einige späte Anlagen wie vor allem die monumentale Bebauung am Friedrich-Engels-Platz von 1933 mit 1467 Wohnungen eigene Stadtquartiere aus.

Gemeinschaftlich kochen, waschen, spielen

Die architektonische Besonderheit der Höfe liegt in ihrer kompakten, nach innen gerichteten Bauweise: Stets sind Innenhöfe ausgebildet, die mit Grünanlagen und Kinderspielplätzen für die Bewohner der meist nur um die 50 Quadratmeter großen Wohnungen ausgestattet sind. Monumentale Einfahrten, oft auch überbaut, betonen die Abgeschlossenheit und auch Erkennbarkeit eines jeden Hofes. Weniger sichtbare, aber integrale Bestandteile waren die Waschküchen, Gemeinschaftsbäder, Kindergärten und vielfach auch Volksgaststätten der „Wiener Öffentlichen Küchenbetriebsgesellschaft“ (WÖK) – sie sollten vor allem die berufstätigen Frauen entlasten, stellten darüber hinaus aber eine damals noch unerschwingliche technische Ausstattung für alle bereit. Bäder besaßen die wenigsten der Wohnungen, wiewohl es etwa im Karl-Marx-Hof einige wenige, besser ausgestattete „Repräsentationswohnungen“ für bekanntere Zeitgenossen gab, die zeigen sollten, dass auch Angehörige „höherer“ sozialer Schichten am gesellschaftlichen Miteinander teilnehmen wollten, im Sinne des reformerischen Programms der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, der nachmaligen SPÖ.

Denn die Sozialwohnungsbauten zielten über die reine Versorgung hinaus auf eine Veränderung der Gesellschaft. Im Katalog der Ausstellung „Das rote Wien“, die das Wien Museum derzeit und noch bis ins kommende Jahr hinein aus Anlass der 100-Jahr-Feier zeigt, ist von den drei Konzepten der „Pädagogisierung, Hygienisierung und Demokratisierung“ die Rede: Bildung für alle durch Volksbüchereien und Vortragssäle, die es in den größeren Höfen gab und teils noch bis heute gibt, funktionale Bäder für alle anstelle des traditionellen, heimischen Badezubers, und schließlich Teilhabe am demokratischen Miteinander. Aus zahllosen Zeitzeugenberichten der oft lebenslangen Bewohner ist ersichtlich, dass die Alltagswirklichkeit diesen Idealen tatsächlich nahekam: Gemeinschaftsgefühl und Solidarität werden immer wieder hervorgehoben.

Längst gibt es auch Aufzüge

Die gesellschaftlichen Umwälzungen durch die Zeit des Faschismus und Nationalsozialismus, durch Krieg und Nachkriegszeit, aber vor allem der die Breite der Bevölkerung erreichende Wohlstand haben die Ideale der Wohnbautätigkeit mindestens in den Hintergrund treten, wenn nicht gänzlich absterben lassen. An den Wohnhöfen ging das nicht spurlos vorbei. Sie mussten im Laufe der Zeit modernisiert werden, bekamen Bäder und wurden aus zuvor drückender Enge zu größeren Einheiten zusammengelegt. An den außen an die „Stiegen“, die Treppenaufgänge angefügten Aufzugsschächten lassen sich bei etlichen Wohnhöfen die materiellen Verbesserungen ablesen. Gemeinschaftsbäder und Waschhäuser verschwanden, wie auch die lokale Versorgung durch kleine Ladengeschäfte an den Hauptzugängen des jeweiligen Hofes.

Die Bautätigkeit der Stadt Wien – die sich bis zum Austrofaschismus stets als „Gemeinde“ bezeichnete und so auch in den Inschriften der Wohnhöfe benannt ist – wird bis heute fortgeführt. Im innerstädtischen Bereich ist sie lediglich an Lückenschließungen erkennbar; große Grundstücke wie in den zwanziger Jahren stehen nicht mehr zur Verfügung. In den Außenbezirken jedoch hat es eine ganze Reihe von Großsiedlungsvorhaben gegeben, analog den Bauvorhaben in der Bundesrepublik, die in den sechziger und siebziger Jahren durchgeführt wurden („Neue Heimat“). Zunächst wurden Ende der vierziger Jahre regelrechte Wohnsiedlungen mit Einzelhäusern errichtet, die an die Siedlungsbewegung unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg erinnerten und auf teilweise Selbstversorgung gerichtet waren. Alsbald setzt sich auch in Wien das Leitbild der „aufgelockerten“ Stadt durch, mit Zeilenbauten und Punkthäusern das Gegenbild zu den geschlossenen Wohnhöfen des „Roten Wien“. Mitte der 60er Jahre gab es Experimente mit Platten- beziehungsweise Montagebau.

Experimente in den 1970er Jahren

Eine besondere Form stellen die Terrassenhäuser da, die in den siebziger Jahren en vogue waren. Ihre bei weitem größte Realisierung fanden sie im Wohnpark Alt-Erlaa. Zwischen 1976 und 1985 entstanden nach Entwurf des 2016 verstorbenen Architekten Harry Glück drei parallele, jeweils 300 Meter lange und 90 Meter hohe Wohnzeilen, deren untere zehn Geschosse terrassenförmig übereinander gestaffelte Grünbalkone zeigen; darüber ragen weitere 15 Geschosse Hochbau auf. Auf den Dächern sind Schwimmbecken sozusagen als Naherholungsbereich angeordnet, insgesamt sieben an der Zahl, während tief im Gebäudeinneren Hallenschwimmbäder zur Verfügung stehen. Ein Einkaufszentrum, Kindergärten, Arztpraxen sowie eine gute Verkehrsanbindung – mittlerweile durch eine U-Bahn-Linie – sind selbstverständlich. Es ging dem Architekten darum, heißt es in einem Aufsatz über Harry Glück, „dass der soziale Wohnbau ein Ort des sozialen Aufstiegs ist und nicht des Abstiegs“. Die gesamte Anlage zählt rund 3200 Wohnungen und ist damit die größte kommunale Wohnanlage Österreichs. Ein gesellschaftspolitischer Anspruch wie in den zwanziger Jahren war mit diesem wie mit anderen Wohnparks nicht mehr verbunden. Doch der Architekt, Jahrgang 1925, brachte genau diesen Anspruch auf die Kurzformel seines Arbeitsmottos: „Wohnen wie Reiche auch für Arme“.

Gasometer zu Wohnhäusern

In eine andere Richtung – die des Eigentumerwerbs – zielte das spektakuläre Projekt des Umbaus der Gasometer von Simmering zwischen 1999 und 2001. Durch Ein- und Anbauten von Architekten wie Coop Himmelb(l)au oder Jean Nouvel wurden aus den vier funktionslosen Gasbehältern Wohnanlagen mit insgesamt rund 600 Wohnungen, die im Auftrag der Stadt Wien realisiert und als Wohneigentum verkauft wurden; gedacht sicher auch als Alternative zur Stadtflucht von Besserverdienenden. Man war am Ende der Wohnungsnot im Sinne der Mangelwirtschaft angekommen oder glaubte es zumindest zu sein. Zu diesem Zeitpunkt betrug der Bestand an öffentlichen Wohnungen in Wien rund 220 000, verwaltet von der Magistratsabteilung „Wiener Wohnen“ für rund eine halbe Million Bewohner, ein Viertel der gesamten Einwohnerschaft der Stadt.

Die ästhetische Kritik an den Wohnhöfen des „roten Wien“ als „traditionalistisch“ ist verstummt: Sie werden als architektonische Alternative zur Bauhaus-Moderne wahrgenommen und geschätzt.

Ausstellung „Das rote Wien 1919-1934“ im Ausweichquartier des Wien Museums, MUSA, Felderstraße 1-3, bis 19. Januar 2020. Katalog im Birkhäuser Verlag, Großformat, 470 Seiten, 39 Euro.

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