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Interview: „Mit einem Schritt erschließt sich eine neue Welt“

Rückzugsort, Aussichtspunkt und Pufferzone – ein Gespräch mit Architekt Hans Ullrich Grassmann über Balkone.

Was wären „Romeo und Julia“ ohne Balkon? Begrifflich leitet sich der individuelle, lichte und luftige „Wohnraum im Freien“ aus dem Althochdeutschen balco (Balken) ab. Doch bereits im alten Rom kam dem der Fassade vorgelagerten Bauteil eine tragende Bedeutung zu: Genau wie in Indien und Südostasien wurde er dort als architektonisches Gestaltungsmittel genutzt. In Pompeji sind Balkone aus dem 1. Jahrhundert erhalten geblieben. In Deutschland taucht der Balkon erst im 14. Jahrhundert im Wohnungsbau auf. Lange Zeit hat er dort allerdings nur eine rein repräsentative Funktion.

Der Siegeszug des städtischen Balkons begann in den Gründerjahren des 19. Jahrhunderts. Anfänglich noch ein Privileg bürgerlicher Schichten, avancierte der zwischen Himmel und Erde hängende Ersatzgarten schon bald zu einer Massenerscheinung an Mietskasernen und modernen Zeilenbauten. Während in Kriegszeiten auf Balkonen sogar Obst- und Gemüseanbau betrieben wurde, bringt der urbane Mensch des 21. Jahrhunderts eine erstaunliche Vielfalt auf seinem Balkon hervor.

Bereits heute wechseln im Bild unserer Städte verwaiste Fassaden mit überbordenden Geranienzuchten, liebevoll gehegte Terrakottakübel mit tristen Plastikkästen und Holzbalustraden mit klinisch weißen Satellitenschüsseln. Der Balkon hat viele Gesichter: Rückzugsort, Abstellfläche, Gartenersatz. Für manche ist er gar „ein Paradies mit Geländer“. Für den kleinen Geldbeutel gilt „Balkonien“ als Alternative zum Kurztrip in die Ferne.

In der Tat steigern Balkone die Wohnqualität enorm, gerade in Innenstädten. In zentralen Lagen bietet sich bei verdichteter Baustruktur und großen Gebäudetiefen beziehungsweise engen Gebäudeabständen statt des auskragenden Balkons eher die Loggia – italienisch für (Theater-)Loge – an. Sie hat mehrere Vorteile gegenüber dem Balkon: Optisch erscheint die Fassade weiterhin als eine Ebene, und die darunterliegenden Geschosse werden durch keine Auskragung verschattet. Darüber hinaus bietet die Überdachung dem Bewohner selbst bei schlechtem Wetter einen zusätzlich nutzbaren Aufenthaltsraum.

Auf welch unterschiedliche Weisen man Balkons und Loggien in Gebäude integrieren kann, zeigen die zahlreichen Wohnungsbauten des Architekturbüros Baumschlager Eberle aus Österreich. Als Verantwortlicher der Entwurfs- und Wettbewerbsabteilung steht der Architekt Hans Ullrich Grassmann Rede und Antwort.

Herr Grassmann, die Zeit, in der Kleingärtner als Spießer galten, scheint endgültig vorbei. Warum knüpfen Sie bei Ihren Häusern nicht dort an? Stattdessen setzen Sie mit Balkons und Loggien auf Rückzug.
Wir sehen das nicht als Widerspruch. Menschen suchen neben dem Rückzug in der Wohnung im Gegenzug den Aufenthalt im Freien. Sicher bietet ein Schrebergarten viele Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, er schließt aber oft eine längere Anfahrt ein. Den klassischen Garten mit Obstbäumen und Blumenbeet wollen die meisten heute ja gar nicht mehr bewirtschaften oder können ihn sich als Kosten- und Zeitfaktor schlicht nicht leisten.

Statt Heckeschneiden und Rasenmähen lieber das domestizierte Grün im Blumenkübel auf dem Balkon?
Im Geschosswohnungsbau unbedingt. Hier denken wir aber bewusst über die einzelne Wohnung hinaus und sehen in den Außenanlagen sogar ein wichtiges verbindendes Element mit den Nachbarhäusern. Ein Grünkonzept prägt das Image einer Wohnanlage entscheidend, ebenso eine intelligent gestaltete Fassade, die nicht einfach mit ein paar Fensteröffnungen plan und plump daherkommt. Der Balkon und noch mehr die Loggia schaffen gezielte Ausblicke in die Umgebung der (Stadt-)Landschaft und bilden so eine Art Filter- oder Pufferzone zur Nachbarschaft.

Balkon oder Loggia bilden den Rahmen, der Ausblick das Bild?
Genau. Viele unserer Bauten stehen in direktem Zusammenhang mit der Landschaft und bieten reizvolle Panoramen, auch im urbanen Raum. Aber nicht nur nach außen, auch im Innern bieten sich interessante Perspektiven. Die aus der Fassade auskragenden oder zurückgesetzten „Sommerzimmer“ schaffen zu jeder Tageszeit einen neuer Eindruck: Bei steilem Sonneneinfall entstehen fast senkrechte Schatten, bei niedrigem Sonnenstand sind es weiche Schattierungen. So entsteht ein plastischer, aber nicht statischer Eindruck. Das ist aber weniger ein ästhetisches als ein ökologisches Thema. Wir setzen statt auf teure und anfällige Technik lieber auf durchdachte Prinzipien der Fassade als räumliche Schicht zwischen innen und außen und schaffen so einen integrierten Sonnenschutz. Zusätzlich lassen sich verschiebbare Lamellenelemente individuell bedienen, was auch eine Belebung der Fassade zur Folge hat. Der private Außenraum ist aber mehr als ein zweidimensionaler Rahmen. Mit einem einfachen Schritt erschließe ich mir eine neue sinnliche Welt: frische Luft, Geräusche, Ausblick.

Der Balkon als Wohnraum ohne Dach?
Die Sehnsucht nach der Natur ist uns ja trotz Zivilisation allen gemein. Schon seit Jahren zeigt sich aber auch das Bedürfnis, der Unwirtlichkeit der Welt zu entfliehen. Die Loggia – Innen- und Außenraum zugleich – vereint Offenheit und Schutz.

Wann planen Sie statt einem Balkon eine Loggia?
Steigende Grundstückspreise in den Innenstädten haben eine zunehmende Verdichtung zur Folge, Gebäudeabstände werden geringer. Um der gewünschten Privatsphäre Rechnung zu tragen, ziehen wir besonders hier die Loggia vor. Auch der individuelle Gestaltungswille der Nutzer mit Sichtschutz durch Bambusmatten aus dem Baumarkt lässt sich im wörtlichen Sinne durch eine Loggia besser einfassen. Ein einheitliches und gediegenes Erscheinungsbild des Apartmenthauses spielt für die Akzeptanz bei allen Beteiligten eine immer größerer Rolle.

Mit welchen architektonischen Mitteln bringen Sie die Einheitlichkeit und die individuellen Bedürfnisse der Bewohner in Einklang?
Die Materialien sollen dem Nutzer Sinnlichkeit, Authentizität und Werthaltigkeit vermitteln. Da es sich um einen Außenraum handelt, grenzen Wind und Wetter deren Auswahl natürlich ein; sie müssen Feuchtigkeit und Temperaturschwankungen standhalten. Für Brüstungen setzten wir transluzentes oder opakes Glas ein, die Transparenz des Materials verstärkt den ambivalenten Raumeindruck und nimmt dem Innenraum kaum Licht. Gerne verwenden wir Bodenbeläge aus Naturstein und Holz. Letzteres hat den Vorteil, dass es sich kaum aufheizt und auch bei kalten Temperaturen barfuß nutzbar ist. Eine ideale Verbindung gelingt, wenn der Fußboden als „eine Fläche“ von innen nach außen durchläuft. Individuelle Features wie Bepflanzung, Möblierung oder womöglich eine Badewanne auf der Loggia unterstreichen persönliche Vorlieben des Bewohners.

Insa Lütdke

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