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Moskaus Kampf um die Plattenbauten: Wolkenkratzer statt Chruschtschowka

Die alten fünfstöckigen Plattenbauten in Moskau sollen zugunsten eines groß angelegten Stadtumbauprogramms fallen.

Moskau ist aufgebracht. Die Wut gegen die Behörden ist groß, genauso die Ratlosigkeit. Denn der kremlnahe Bürgermeister Sergej Sobjanin hat vor der Wahl im kommenden Jahr ein großes Vorhaben, quasi ein Prestigeprojekt. Er und seine Stadtplaner wollen die Metropole mit geschätzt 14 Millionen Einwohnern umkrempeln. Rund 5000 alte Wohnhäuser sollen abgerissen und gegen neue, moderne Appartements ausgetauscht werden. Es geht nach offiziellen Angaben um Wohnungen für 500 000 Menschen. Was genau ist geplant?

Für viele Bewohner ist das geschätzt rund 50 Milliarden Euro schwere Bauprojekt eine Katastrophe. Denn in den meisten Fällen sind die Wohnungen Privateigentum. Nach dem Ende der Sowjetzeit wurden sie einfach den Bewohnern übertragen. Sollten diese sich nun weigern, freiwillig innerhalb zweier Monate auszuziehen, müssen sie zwangsumgesiedelt werden.

Auf dem Papier sieht der „Renowazija“ (Renovierung) getaufte Plan vielversprechend aus: Die Jahrzehnte alten fünfstöckigen Familienhäuser auf den besten Baugründen Moskaus, sogenannte Chruschtschowki, sollen abgerissen werden. Die Wohnungen, viele davon nicht größer als 40 Quadratmeter, wurden in den frühen sechziger Jahren unter Parteichef Nikita Chruschtschow gebaut. Heute sind einige baufällig und marode, doch bei Weitem nicht alle.

58 Häuser sollen in Moskau abgerissen werden

Ende Februar gab Bürgermeister Sobjanin seinen Plan zur Beseitigung der Chruschtschowkas bekannt. Damals bezog er sich auf 8000 Gebäude mit rund 1,6 Millionen Einwohnern. Inzwischen wurde das Projekt auf gut die Hälfte zusammengestrichen, denn viele Einwohner wollen die angestammten Quartiere nicht verlassen. 58 fünfstöckige Häuser sollen aktuell in Moskau abgerissen werden (Stand: 7. Juni 2017).

Chruschtschowkas haben extrem kleine Küchen, Fahrstühle gibt es nicht. Nicht alle sind Plattenbauten, es gibt auch Ziegel-Chruschtschowkas. In jedem Fall handelt es sich um Billig-Mietskasernen der post-stalinistischen Zeit, die in Moskau und vielen anderen russischen Städten in kürzester Zeit errichtet wurden, um der Wohnungsnot der 50er und 60er Jahre zu begegnen. Chruschtschowkas sind vier oder fünf Etagen hoch. Insgesamt stehen sie für rund ein Zehntel des Moskauer Wohnraums.

Nach Einschätzungen von Forbes können zirka 60-70 Millionen Quadratmeter Wohnfläche nach dem Abriss von Chruschtschowki neu errichtet werden.

Die Bürger sprechen von "Deportation"

Ende Mai stellte Moskaus Chefarchitekt Sergej Kusnetsow seine Vision des zukünftigen Stadtbildes auf der 22. Internationalen Ausstellung für Architektur und Design vor. Er trat für den Neubau einzelner Stadtviertel ein. Jedes soll einen geschützten Innenhof erhalten. Dort lassen sich viele neue Parkplätze unterbringen – zur Entlastung der Anliegerstraßen. Aber natürlich soll es hier auch Blumenrabatten und Ruhebänke geben. Die Zahl der Bäume und Sträucher soll insgesamt nicht reduziert werden, sagte Sobjanin dem Fernsehsender Rossiya 24.

Radwege, Spiel- und Sportgeräte sollen „aufbauend“ wirken wie der Baustil. Gegen das „Grau“ der „Schlafbezirke“ sollen ein modernes Design und wohl auch mehr Farbe eingesetzt werden – nicht zuletzt, um die Kriminalitätsraten in den Vierteln zu senken. Kusnetsow sagte in einem Interview mit der „Rossijskaja Gazeta“ („Russische Zeitung“), dass es bei den zu errichtenden Neubauten nicht um irgendwelche Wolkenkratzer gehe. Das historische Stadtbild und die Bevölkerungsdichte würden bei der Neugestaltung eine Rolle spielen. Fünfgeschossige Häuser seien jedoch „ein großer Luxus“ für die Großstadt, sagte Kusnetsow mit Blick auf die „Chruschtschowki“. Moskaus Bürgermeister wurde im Interview mit Rossiya 24 deutlicher. Selbstverständlich wird Moskau insgesamt höher: „Es werden Wolkenkratzer anstelle von weit ausgelegten Siedlungen gebaut.“

Die Sorgen der Bürger sind groß: Sie sollen andere Grundstücke beziehen. „Deportiert“, bezeichnet eine Rentnerin bei einer Demonstration den Umzug. Den Bewohnern wird nach Angaben der Stadt zumindest garantiert, eine Wohnung „entsprechender“ Größe und im angestammten Wohnviertel zu bekommen. Viele fürchten dennoch, an den Stadtrand gedrängt zu werden.

Viele Wohnungen verlieren dramatisch an Wert

Gegen den Abriss alter Fünfgeschosser – mit ihren nicht mehr zeitgemäßen Grundrissen – regt sich aber Protest.
Gegen den Abriss alter Fünfgeschosser – mit ihren nicht mehr zeitgemäßen Grundrissen – regt sich aber Protest.

© AFP/Alexander NEMENOV

Offiziell sollen die Bewohner selbst entscheiden, ob sie sich dem Bauprojekt anschließen. Wenn sich zwei Drittel jedoch dafür aussprechen, müssen auch die Nachbarn mitziehen. Wenn Bewohner nicht abstimmen, wird das als ein Ja gewertet. Ob die Bürger aber wirklich Einfluss haben werden, ist nicht sicher. Geplant ist, dass sie ihre alte gegen eine gleichgroße, aber moderne Wohnung tauschen können. Zusätzliche Quadratmeter können sie zukaufen. Ob sie sich dann die Wohnungen in den modernen Bauten leisten können, ist jedoch offen. Denn die Wirtschaftskrise lässt die Realeinkommen trotz sinkender Inflation weiter schrumpfen, Rentner bekommen vom Staat im Durchschnitt rund 220 Euro im Monat.

Auch die Moskauer, deren Wohnungen offiziell nicht für den Abriss vorgesehen sind, fürchten um den Wert ihrer Anlage. Schon jetzt seien einige Wohnungen um 12 Prozent günstiger als noch vor ein paar Wochen, schreibt die Zeitung „Kommersant“. Viele Wohnungen seien jetzt im „Sonderangebot“ zu erstehen.

Das alte Haus im Stadtteil Sokolniki, in dem Jelena Fomina wohnt, steht noch nicht auf der Liste. Sie ist trotzdem verärgert über die Pläne. „Der Wert meiner Wohnung ist jetzt schon um zwanzig Prozent gefallen“, sagt die Hausfrau.

Die alten Häuser stehen auf den wertvollsten Grundstücken der Stadt

Bürgerversammlungen, bei denen eigentlich über das Vorhaben informiert werden sollte, enden reihenweise in Handgemengen und lauten Streitereien. Verfassungsfeindlich und unmoralisch seien die Pläne über die Umsiedlung, sagt Jelena Fomina verärgert.

So werde auch das Recht auf Eigentum verletzt, sagte der Demonstrant Alexander. Sein Plattenbau wurde 1963 errichtet. Mit seiner Frau Jelena lebt er dort seit mehr als 40 Jahren. „Natürlich hätten wir gern eine bessere Wohnung, eine größere Küche“, sagt er. Aber der Abriss sei unnötig. „In Ostdeutschland hat man doch gezeigt, wie man Plattenbauten sanieren kann.“ Er vermutet Geschäftemacherei hinter den Plänen des Bürgermeisters, denn viele der alten Häuser stehen auf den wertvollsten Grundstücken der Stadt.

Sicher ist: Der Bausektor und Immobilienentwickler werden von dem Projekt immens profitieren. Russland stabilisiert sich langsam nach der Wirtschaftskrise, die der gefallene Ölpreis dem Land brachte. 2014 und 2015 wurde der Bau-Boom gestoppt. Unternehmen stoppten bereits begonnene Vorhaben. In diesen Jahren gingen die Umsätze der Branche jeweils um vier und fünf Prozent zurück. Der Abgeordnete Michail Degtjarew von der Liberal-Demokratischen Partei warnt vor der Gefahr, dass Geschäftsleute von dem Projekt am meisten profitieren.

Putin: "Die Rechte der Bürger dürfen nicht verletzt werden"

Der neue Zaryadye-Park (zwischen Varvarkastraße und der Bolshoy-Moskvoretsky-Brücke) soll im Herbst eröffnet werden.
Der neue Zaryadye-Park (zwischen Varvarkastraße und der Bolshoy-Moskvoretsky-Brücke) soll im Herbst eröffnet werden.

© Mayor and Moscow Government Press Service

Die gesetzliche Lage ist noch nicht geklärt: Die Demonstranten hoffen darauf, dass die Staatsduma das umstrittene Gesetz zurückzieht. Dass Bürgermeister Sobjanin zumindest anfangen wird, seinen Plan umzusetzen, kann als sicher gelten. Denn er ist bekannt für überraschende Aktionen. Grünanlagen, Fahrradwege oder der Abriss Tausender illegaler Kioske: Er will die Stadt sauber machen, um jeden Preis. Dass die Menschen kurz vor Anlauf des Wahlkampfs zur Bürgermeisterwahl im Herbst 2018 wegen seines neuen Prestigeprojektes auf die Straße gehen, dürfte ihm ungelegen kommen.

Das Neubauprogramm wird einige Zeit in Anspruch nehmen, wie Sergei Sobjanin der offiziellen Website Moskau anvertraute: „Es wird 15 Jahre dauern, um den ersten Bauabschnitt zu realisieren. Selbst wenn wir kontinuierlich an dem Projekt arbeiten, dauert es 45 Jahre, bis der dritte Bauschnitt beginnt. Und der aktuelle Zustand der Chruschtschowki ist einigermaßen mies. Wenn wir Glück haben, halten sie noch 15 bis 20 Jahre.“ Seinen Kritikern hielt Sobjanin entgegen: „Das ist nicht das Projekt des Bürgermeisters, das ist nicht das Projekt der Staatsduma oder von sonst irgend jemandem, die ist ein wichtiges gemeinsames Projekt, das viele Menschen betrifft.“

Russlands Präsident Putin sagte bei einer Kabinettssitzung; „Das Ziel ist, die Wohnbedingungen für diejenigen zu verbessern, deren Gebäude einzustürzen drohen. Selbstverständlich muss dies in einer Weise geschehen, die die Rechte der Bürger nicht verletzt." Für den Umbau, der im September beginnen soll, sind umgerechnet 57 Milliarden Euro vorgesehen.

Die neuen Häuser sollen bis dreißig Prozent mehr kosten als die alten

Anders als in Deutschland sollten die Mieter finanziell nicht an den Baumaßnahmen beteiligt werden, sagte Sobjanin zu. Die Erfahrungen in Europa mit der Sanierung alter Gebäude seien nicht sehr ermutigend. Dann anders als beim Neubau blieben die Außenmaße der Gebäude ja gleich. Die Stadt Moskau werde die neuen Häuser bauen, die dann – so der Bürgermeister – zwanzig bis dreißig Prozent mehr kosten sollen als die alten. Zunächst sollen hier die Bewohner der Chruschtschowki zum Zuge kommen. Moskaus Bürger sollen dort neue Wohnungen erhalten, wo sie bisher gewohnt haben. Nach den geltenden Bestimmungen muss vor der Zerstörung eines Gebäudes das Einverständnis von zwei Dritteln der Bewohner vorliegen. Sobald die Zustimmung eingeholt wurde, kann eine Pflicht zum Auszug binnen zwei Monaten angeordnet werden.

Walerija Jewsejewa und ihr Mann Alexander haben vor einem Jahr eine Chruschtschowka gekauft, die in der Nähe eines Parks liegt. „Es ist ein Ziegelbau“, sagt die 31-jährige Angestellte, der besonders das Radeln im Park am Herzen liegt. „Ziegelbauten können 150 Jahre halten.“ Den Abrissplan findet sie „schockierend“.

ZAHLEN

Nach Einschätzung der Stadtregierung werden in den kommenden fünf Jahren ungefähr 2000 bis 2500 runtergewirtschaftete Gebäude betroffen sein und weitere 4000 in den darauf folgenden fünf Jahren. In den kommenden 15 Jahren sind etwa 6000 Gebäude nicht mehr zum Wohnen geeignet.

ABRISS

Betroffen vom geplanten Abriss sind Bauten, die in den 50er bis 70er Jahren in industrieller Bauweise (Plattenbau) errichtet wurden.

NEUBAU

Zunächst sollen die abgerissenen Häuser durch Hochhäuser ersetzt werden, die das Stadtbild durch ihr individuelles Design aufwerten sollen. Ein erstes Stadterneuerungsprogramm wurde 1999 aufgelegt.

(mit dpa und AFP)

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