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Die Grundstücke am heutigen Hauptbahnhof (eröffnet 2006) wurden mehrfach überbaut. Die Kriegsruine des Lehrter Fern-Bahnhofs beseitige man 1957-59, während der Lehrter Stadt-Bahnhof (S-Bahn) in Betrieb blieg.

© NIls Klöpfel

Stadtentwicklung: „Sag mir, wo die Gräber sind, was ist geschehen?“

In Unkenntnis historischer Ereignisse wird am Hauptbahnhof über sterbliche Überreste hinweggeplant

Berlin plant am Hauptbahnhof ein neues Stadtviertel. „Das Ziel ist es, ein „lebendiges Quartier“ mit einer belebten Erdgeschosszone zu entwickeln“, heißt es in einem Faltblatt der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen. Was in moderner PR-Sprache aufgeräumt daherkommt, könnte makabrer nicht sein, wirft man den Blick auf die Geschichte des keilförmigen Grundstücks, das zwischen der Invalidenstraße, der Emma-Herwegh-Straße, dem Bahnviadukt und Alt-Moabit liegt.

Die Ausschreibung für einen städtebaulichen Rahmenplan und für ein Bürgerbeteiligungsverfahren zum „ULAP-Quartier“ hätte wohl anders aussehen müssen, wollte sich Berlin der Tausenden von Toten aus der Entscheidungsschlacht von Großbeeren (23. August 1813) erinnern – und der hier in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges per Genickschuss exekutierten 16 Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus. Zu den politischen Gefangenen aus dem Zellengefängnis Lehrter Straße gehörten Klaus Bonhoeffer, der ältere Bruder des Dietrich Bonhoeffer, und Albrecht Haushofer. Im Mantel des toten Haushofer fanden sich in der Nacht vom 22. zum 23. April 1945 fünf Blätter mit seinen 80 „Moabiter Sonette“, ein Resümee seines Lebens und seiner Verzweiflung in der Haft.

Von diesen Hintergründen ist in den begleitenden Unterlagen nichts zu lesen. Abgehoben wird allein auf das für den Planungsprozess namensgebende ULAP- Ausstellungsgelände – Berlins erstes Messegelände. Der ehemalige (Universum) Landes-Ausstellungs-Park wurde 1879 errichtet. Hier stellte zum Beispiel Werner von Siemens die erste elektrisch betriebene Bahn der Welt vor.

Der Stadtentwicklungssenat denkt nun über einen Gedenkort im ehemaligen Uraniasaal nach

Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen – federführend im Planungsverfahren – wusste angeblich nichts von diesen Fakten. Die geschichtlichen Hintergründe seien ihr nicht bekannt. Die Tagesspiegelrecherchen erscheinen ihr aber „so wichtig, dass wir es im Rahmen des Akteursworkshop am 15.9. mit Projektpartnern besprechen werden“, sagte eine Sprecherin auf Anfrage: „Wir sind mit Ihnen einer Meinung, dass ein angemessener Umgang mit der besonderen Geschichte im Rahmen der städtebaulichen Konzeption als auch für nachfolgende Planungsebenen geboten ist. Das könnte zum Beispiel ein Geschichtsort als Teil des öffentlichen Raumes oder/und ein Ort des Gedenkens im ehemaligen Uraniasaal etc. sein.“ Die geschichtlichen Hintergründe wurden am 15.9. allerdings mit den Projektpartnern nicht – wie von der Senatsverwaltung angekündigt – angesprochen, so ein Teilnehmer.

Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen kündigte zudem an, das Thema auch mit dem für archäologische Funde zuständigen Landesdenkmalamt  zu besprechen. „Auch die gedenkpolitisch zuständige Senatsverwaltung für Kultur und Europa werden wir in die Klärung aktiv einbeziehen", so die Sprecherin.

Vorläufiger Planungsstand. Zwei Entwürfe werden mit einem weiteren Vorschlag (von BJP Architekten) weiterverfolgt. Alle Architektenbüros bewegen sich streng in dem von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen gesetzten Ausschreibungsrahmen. Historische Ereignisse spielen darin keine Rolle. Die Implementierung von Orten der Erinnerungskultur dürfte somit der nachgeordneten Freiraumplanung überlassen bleiben und findet keinen Niederschlag in der Neubebauung. Grafiken: ISSS/Bauchplan ).( (unten); Kepler 32/Urbanophil/Gruppe F (oben)
Vorläufiger Planungsstand. Zwei Entwürfe werden mit einem weiteren Vorschlag (von BJP Architekten) weiterverfolgt. Alle Architektenbüros bewegen sich streng in dem von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen gesetzten Ausschreibungsrahmen. Historische Ereignisse spielen darin keine Rolle. Die Implementierung von Orten der Erinnerungskultur dürfte somit der nachgeordneten Freiraumplanung überlassen bleiben und findet keinen Niederschlag in der Neubebauung. Grafiken: ISSS/Bauchplan ).( (unten); Kepler 32/Urbanophil/Gruppe F (oben)

© ISSS/Bauchplan ).(

Überreste der Toten aus den letzten Gefechten der Freiheitskriege wurden zuletzt im Frühjahr 1997 bei vorbereitenden Erdarbeiten zum Bau des Hauptbahnhofs gefunden, „im Bereich der Eisenbahnüberführung westlich des Friedrich-List-Ufers“, wie es im Tagesspiegel hieß. Es wurden rasch immer mehr Knochen und Knochenfragmente eingesammelt,  um die 60000. Schnell gab es Spekulationen über die Identität der Toten. Sie reichten von sowjetischen, im Kampf um Berlin gefallenen Soldaten über Berliner Bombenopfer bis zu Opfern des NS-Terrors. Als aber bei keinem der Toten Zahnfüllungen entdeckt wurden, eine Herkunft der Skelettreste aus dem 20. Jahrhundert also unwahrscheinlich war, tippte der damalige Leiter des Landesinstituts für gerichtliche und soziale Medizin, Volkmar Schneider, auf Seuchenopfer aus dem 19. Jahrhundert, zumal zwischen Knochenresten Kalkklumpen entdeckt worden waren. Mit Löschkalk wurden früher die Opfer von Epidemien bedeckt, als Maßnahme gegen ansteckende Erreger.

1997 tauchten bei Bauarbeiten am Hauptbahnhof Skelettreste auf

Tatsächlich waren es aber keine Seuchenopfer, die hier ihre letzte Ruhe fanden. Lexikon-Autor Hans-Jürgen Mende beruft sich auf frühere Grabstättenforscher, die fünf Begräbnisstätten der über 9000 in Berliner Lazaretten gestorbenen Soldaten der Befreiungskriege – Deutsche, Schweden und Franzosen – ausfindig gemacht hatten. Er lokalisiert den von 1813 bis 1868 bestehenden Soldatenfriedhof in dem Areal zwischen Friedrich-List-Ufer, Invalidenstraße und Alt-Moabit. Zu den Friedhöfen gehörte auch der auf dem Areal des alten Lehrter Bahnhofs, bei dessen Bau er weichen musste. „Die bei Bauarbeiten aufgefundenen Gebeine wurden, in mehreren Kisten verpackt, in einem Sammelgrab bestattet“, schreibt Mende. Die 1997 aufgetauchten Skelettreste müssen also in einem Teil des Friedhofs gelegen haben, der von den Arbeiten unbehelligt blieb. So wurde der Waldfriedhof Stahnsdorf die letzte Ruhestätte für geschätzt 500 Tote. Dem eigentlich zuständigen Bezirk Wilmersdorf fehlten dafür die Flächen: Für 55 schlichte Särge – eine Zuordnung der Knochen zu Einzelpersonen war kaum möglich gewesen – wurde ein 20 mal fünf Meter großes Gemeinschaftsgrab im Feld F II ausgehoben.

Das Grundstück wird von dem Planungsteam (Kepler 32/Urbanophil/Gruppe F) in zwei Superblöcke aufgeteilt. Der eine, in Richtung Hauptbahnhof, soll eine metropolitane Mischung zwischen Verwaltung, Wohnen und Einzelhandel bilden. Der andere hingegen soll das Gefühl einer urbanen Gemeinschaft erzeugen und Wohnen, Schule und Gewerbe vereinen. Zwischen den beiden super Blöcken wird ein Quartiersband geplant, welches sich zum Bahnviadukt öffnet und eine Verbindung zum ULAP-Park bilden soll.
Das Grundstück wird von dem Planungsteam (Kepler 32/Urbanophil/Gruppe F) in zwei Superblöcke aufgeteilt. Der eine, in Richtung Hauptbahnhof, soll eine metropolitane Mischung zwischen Verwaltung, Wohnen und Einzelhandel bilden. Der andere hingegen soll das Gefühl einer urbanen Gemeinschaft erzeugen und Wohnen, Schule und Gewerbe vereinen. Zwischen den beiden super Blöcken wird ein Quartiersband geplant, welches sich zum Bahnviadukt öffnet und eine Verbindung zum ULAP-Park bilden soll.

© Kepler 32/Urbanophil/Gruppe F

Das Grab wäre wohl noch größer ausgefallen, hätte man die Bauarbeiter auf der Großbaustelle des Hauptbahnhofs nicht gestoppt. Nach der Annahme von 171 blauen Plastiksäcken mit Gebeinen verweigerte das Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin nämlich aus Kapazitätsgründen den Dienst. Immerhin wurden bei den kriminaltechnischen Untersuchungen im Leichenschauhaus (Invalidenstraße 59) Kleidungsreste gefunden: Ein Kupferknopf konnte der Uniform eines französischen Soldaten vom 13. Linien-Infanterie-Regiments zugeordnet werden, auch die textilen Reste passten dazu.

Nach dem 171. Sack wurden keine Knochen mehr angenommen

„Nach dem 171. Sack wurde den Bauarbeitern gesagt: Fahrt mit dem Bagger drüber, wir nehmen keine Säcke mehr an. Wir untersuchen sie nicht mehr“, erinnert sich Bernd Hildebrandt, dem der Tagesspiegel – und die Stadt – den erneuten Hinweis auf die Vorgeschichte des ULAP-Quartiers verdankt. Hildebrandt hat die Geschichte der Knochenfunde in einem Kapitel seines Buches „300 Jahre Moabit“ im Jahr 2018 rekonstruiert. „Wir haben uns jahrzehntelang mit der Nazi-Zeit beschäftigt“, sagt er: „Dass es auch andere Zeiten gab, die für die Stadt von großer Bedeutung waren, das vergessen wir einfach so.“

Geschichtsvergessenheit und Erinnerungskulturbanausentum? „Es ist vielleicht das Hauptmerkmal von Berlin, sich nicht zu erinnern“, sagt Senatsbaudirektor a.D. Hans Stimmann: „Die Folgen dieser Kriege werden nicht gerne thematisiert. Es sind vielleicht unsere Väter gewesen, die vergessen wollten. Das hat die 68er Generation – zu der ich mich auch zähle – versucht aufzubrechen. Der Versuch, die Erinnerung zum Thema zu machen, ist nun auch schon wieder Geschichte. Für die heutige Politik wäre es eine Aufgabe, die Geschichte für sich selbst neu zu entdecken. Die heute 35- bis 40-Jährigen können ja nicht ständig belehrt werden von irgendwelchen Achtzigjährigen, die von ihrer eigenen Emanzipation erzählen.“

Mit Pferdegespannen wurden Verletzte und Tote nach Berlin gebracht

Aber warum nur wurden Tote aus der Großbeerener Schlacht nach Moabit gebracht? „In dieser Entscheidungsschlacht zeigte sich eine große Hilfsbereitschaft der Berliner für die preußischen Truppen“, sagt Hildebrandt, „sie hat Lebensmittel und Kleidung gesammelt und mit Pferdewagen nach Großbeeren gefahren. Zurück haben sie mit den leeren Wagen dann Verletzte in Lazarette und Tote zu dem Ort gebracht, über den wir jetzt sprechen.“ Dort mussten Leichen rasch beerdigt werden, die Seuchengefahr war groß.

Das Landesdenkmalamt Berlin (LDA) bestätigt die Lage der Begräbnisplätze am heutigen Hauptbahnhof. In ihren Verzeichnissen fänden sich Begräbnisplätze von 1760 für russische Gefallene des 7-jährigen Krieges sowie Begräbnisplätze von 1813-1868 der Befreiungskriege. „Die Planung des ULAP-Quartiers am Berliner Hauptbahnhof befindet sich noch in einer frühen Phase, so dass die beiden historischen Friedhöfe Berücksichtigung finden können, um bei bauseitigen Bodeneingriffen archäologische Begleitungen geltend machen zu können“, sagt eine LDA-Sprecherin auf Anfrage.

Herausgegeben vom Heimatverein und der Geschichtswerkstatt Tiergarten e.V. erschien 2018 auf der Feder von Bernd Hildebrandt der Band „300 Jahre Moabit: Zur Geschichte eines Berliner Stadtteils von der hugenottischen Gründung 1718 bis zur Eingemeindung nach Berlin 1861"

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