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Wirtschaft: "In Berlin sind wir kaum einen Schritt weiter"

Im Interview - Siemens-Vorstand Martinsen: Vakuum in der Verkehrspolitik / Industrie fehlen Ansprechpartner im Senat / Weit entfernt vom Kompetenzzentrum TAGESSPIEGEL: Herr Martinsen, als Sie vor knapp vier Jahren als Siemens-Vorstand den Hauptsitz Ihres Bereichs, der Verkehrstechnik, nach Berlin verlagerten, war das fast revolutionär - der Vorstand eines deutschen Großkonzerns zieht nach Berlin.Haben Sie Ihre Entscheidung bereut?

Im Interview - Siemens-Vorstand Martinsen: Vakuum in der Verkehrspolitik / Industrie fehlen Ansprechpartner im Senat / Weit entfernt vom Kompetenzzentrum TAGESSPIEGEL: Herr Martinsen, als Sie vor knapp vier Jahren als Siemens-Vorstand den Hauptsitz Ihres Bereichs, der Verkehrstechnik, nach Berlin verlagerten, war das fast revolutionär - der Vorstand eines deutschen Großkonzerns zieht nach Berlin.Haben Sie Ihre Entscheidung bereut? MARTINSEN: So drastisch möchte ich das nicht formulieren.Es gab und gibt gute Gründe für den Bereich Verkehrstechnik.Berlin ist der größte regionale Verkehrsmarkt, und mit der Deutschen Bahn, der BVG und der S-Bahn sitzen ein Großteil unserer wichtigsten Kunden hier.Vor allem aber ist in dem internationaler werdenden Verkehrstechnikgeschäft die Unterstützung durch die Politik wichtig - wir brauchen die Nähe zur Bundesregierung.Wenn ich jetzt aber Bilanz ziehe, dann muß ich sagen, daß Berlin zwar das Potential hat, einer der wichtigsten Regionalverkehrsmärkte zu sein, und neue Ideen hier realisiert werden könnten.Wir sind da aber noch kaum einen Schritt weitergekommen. TAGESSPIEGEL: Woran liegt das? MARTINSEN: Vielleicht waren wir zu euphorisch.Auch liegt es an der allgemeinen wirtschaftlichen Situation des Stadtstaates.Aber ich beobachte auch, daß sich die Denkweise nicht verändert hat.Manchmal habe ich das Gefühl, man hat hier noch nicht wirklich realisiert, daß die Mauer weg ist. TAGESSPIEGEL: Zum Beispiel? Es ist doch klar, daß der Traum von der alten Industriestadt Berlin ausgeträumt ist.Also müssen wir neue Kompetenzen entwickeln.Das sind Verkehrstechnologie, Kommunikation, Dienstleistungen und Medizintechnik.Darüber wird seit vier Jahren geredet, passiert ist kaum etwas. TAGESSPIEGEL: Das Kompetenzzentrum Verkehr steht also nur auf dem Papier? MARTINSEN: Ja leider.Das einzige, was wir vorzeigen können, ist die Verkehrstechnikmesse Innotrans, die wir gegen heftigen Widerstand, nicht nur aus Hannover, nach Berlin gebracht haben.Das war aber ausschließlich eine Eigeninitiative der Industrie.Dabei hätte vieles für Hannover gesprochen.Dort wurden bei der Lösung von großräumigen Verkehrsproblemen Projekte viel entschlossener angefangen als hier - neue S-Bahn-Anbindungen, der Ausbau des Flughafens, die Anbindung des Messegeländes an das ICE-Netz.Das ist alles schon vollzogen. TAGESSPIEGEL: Aber so ein Kompetenzzentrum muß doch vor allem von Seiten der Unternehmen mit Leben erfüllt werden.Haben Sie da nicht zu hohe Erwartungen an die Politik? MARTINSEN: Wir sind ja in Vorleistung gegangen.Die Innotrans ist ein Beispiel.Ich habe eine Verkehrsrunde eingerichtet, einen regelmäßigen Gesprächskreis mit den Verkehrsministern von Berlin und Brandenburg, um neue Ideen auszuloten.Wir haben eine Patenschaft für Bahnhöfe angeboten, wir haben auch angeboten, die Reinigung von S-Bahn-Zügen zu sponsern.Das sind sicher kleine Lösungen, die wenig kosten, aber sie wären schon ein Schritt, den Nahverkehr attraktiver zu machen.Doch umgesetzt wurde nichts. TAGESSPIEGEL: Woran hakt es? MARTINSEN: Aus meiner Sicht an der Gestaltung der Verkehrspolitik in Berlin.Da ist leider ein Vakuum.Herr Diepgen lädt zwar zu Gesprächsrunden ein, auf der Fachebene fehlt es aber an Ansprechpartnern.So kann doch keine Kooperation stattfinden. TAGESSPIEGEL: Aber ein global tätiges Unternehmen wie Siemens kann doch nicht allein von Ansprechpartnern im Senat abhängen. MARTINSEN: Natürlich könnte ich das ignorieren.Wir sind aber auch daran interessiert, Berlin zu einer Musterstadt für moderne Mobilität zu entwickeln.Deshalb haben wir auch die Innotrans nach Berlin gebracht - um einem internationalen Publikum Lösungsvorschläge beispielhaft zu demonstrieren.Doch dafür ist ein enger Dialog mit dem Senat wichtig.Ideen wie fahrerloses Fahren oder kooperatives Verkehrsmanagement sind in den ersten Ansätzen steckengeblieben.Bei der Umsetzung der Vision sind wir keinen Schritt weiter. TAGESSPIEGEL: Auf dem Weg vom Inkompetenz- zum Kompetenzzentrum - wo steht Berlin denn jetzt? MARTINSEN: Bis vor wenigen Tagen hätte ich wohl gesagt, sehr weit entfernt vom Kompetenzzentrum.Aber inzwischen ist eine Entwicklung angestoßen worden, die ich für wichtig halte: die Idee einer Fusion zwischen BVG und S-Bahn.Ein Berlin-übergreifendes Betreibernetz, ein zentraler Partner für alle Arten des Nahverkehrs - wenn das gelingen sollte, wäre das ein Fortschritt. TAGESSPIEGEL: Nun sind Sie ja nicht irgendwer.Können Sie wirklich nicht mehr Druck auf den Senat ausüben, etwa auch im Schulterschluß mit den anderen Unternehmen? MARTINSEN: Das geschieht bereits.Die drei großen, hier ansässigen Konzerne, also Adtranz, DWA und wir, haben jetzt einen Verkehrsplaner beauftragt, einige Projekte zu definieren, die sich schnell realisieren lassen - möglicherweise mit einem großen Anteil an Eigeninitiative der Industrie.Für diese Vorschläge müßte der Senat dann freilich grünes Licht geben. TAGESSPIEGEL: Im Klartext: Sie übernehmen Aufgaben, die eigentlich Sache des Senats sind? MARTINSEN: Nach den Erfahrungen, die wir gemacht haben, blieb uns nichts anderes übrig. TAGESSPIEGEL: Hilft denn die Industrie- und Handelskammer nicht? MARTINSEN: Mit dem neuen Präsidenten Werner Gegenbauer wurde wirklich eine gute Wahl getroffen.Die Kammer hat im Moment aber das Problem, das neue Ludwig-Erhard-Haus in Gang zu bringen und die Kosten dafür im Griff zu behalten.Das paralysiert.Ein Problem ist aber auch, daß man noch am alten Rollenspiel festhält.Man ist noch zu sehr geneigt, sich nicht gegenseitig weh zu tun. TAGESSPIEGEL: Entpuppt sich das Modell Große Koalition in Berlin als Hindernis? MARTINSEN: Dieses Argument wird zu schnell strapaziert.Es gibt ja durchaus Gegenbeispiele: Auch eine kleine Koalition in Bonn hat wichtige Reformen nicht zustande gebracht.Nein, wenn Visionen machtvoll vertreten würden, dann wären wir schon ein Stück weiter. TAGESSPIEGEL: Vielleicht bräuchten Sie einen Michael Cramer von den Grünen als Senator. MARTINSEN: Na ja, der hat aber ganz vernünftige Vorstellungen. TAGESSPIEGEL: Was müßte denn in Berlin geschehen, um diese Stadt für Investoren attraktiver zu machen - von Subventionen einmal abgesehen? MARTINSEN: Gerade deshalb bietet es sich doch an, über neue Finanzierungsansätze nachzudenken, über "public/private partnership".Aber wir kommen da nicht weiter, solange wir nicht wissen: Will der Senat das eigentlich? Wenn ich das anspreche, denkt Herr Diepgen an eine Verbindung Berlin-Moskau.Wir sollten unser Berlin-Moskau aber erstmal in Berlin lösen - mit regionalen Konzepten oder auch für die U 5 unter den Linden. TAGESSPIEGEL: Ein solches "public/private partnership" gibt es ja schon, wenn auch auf Bundesebene - den Transrapid.Da hat die Industrie doch die politische Unterstützung, in der Bevölkerung aber ist der Widerstand nach wie vor groß.Hat denn da nicht vielmehr die Industrie grobe Fehler gemacht, das Produkt schlecht vermarktet? MARTINSEN: Sie haben sicher recht.Denn die Technologie, davon bin ich überzeugt, funktioniert.Wichtig ist an dem Projekt aber vor allem, daß wir hier modellhaft zeigen können, wie man mit alternativen Finanzierungskonzepten auch teure Verkehrsinfrastruktur nach vorne bringen kann.Das haben wir schlecht vermarktet.Siemens hat sich dabei aber auch bewußt zurückgehalten, weil wir verhindern wollten, daß wir am Ende in ein ähnliches Debakel kommen wie bei der Brennelementefabrik in Hanau - da sind wir gebrannte Kinder. TAGESSPIEGEL: Bislang ist das Finanzierungsmodell für den Transrapid aber wenig überzeugend. MARTINSEN: Immerhin investiert die Industrie 500 Mill.DM aus eigenen Mitteln.Die wären verloren, wenn das Projekt scheitert.Wir werden im Sommer noch einmal eine aktuelle Wirtschaftlichkeitsberechnung vorlegen - aber ich bin sicher, da wird sich nicht mehr viel ändern. TAGESSPIEGEL: Aber es könnte doch noch einmal wackeln, etwa mit einer rot-grünen Koalition in Bonn. MARTINSEN: Das sehe ich nicht so.Wir haben auch mit den Vertretern der Opposition gesprochen.Ich gehe davon aus, daß das Projekt realisiert wird. TAGESSPIEGEL: Zurück zu Berlin: Wenn Sie könnten, was würden Sie ändern? MARTINSEN: Ich würde gerne sehen, daß das Wollen, also die Vision, mit stärkerer Knochenarbeit langsam in Realisierung übergeht. TAGESSPIEGEL: Bei Siemens war der Unmut über Berlin zuletzt deutlich zu hören.Herr Nassauer, Mitglied des Siemens-Gesamtbetriebsrates und -Aufsichtsrates, sagt sogar, der Haussegen zwischen Siemens und dem Senat hänge schief.Würden Sie das auch so sehen? MARTINSEN: Ja, zwischen der Zentrale in München und dem Berliner Senat hängt momentan leider der Haussegen schief.Das hängt mit einer ganzen Reihe von Dingen zusammen, mit öffentlichen Aufträgen, bei denen Siemens leer ausging, Aufträgen, die an Konkurrenten vergeben wurden, die weit weniger stark in Berlin engagiert sind - und das in einer Zeit, in der der Senat den Siemens-Konzern ganz intensiv in die Pflicht genommen hat, Arbeitsplätze in der Stadt zu halten. TAGESSPIEGEL: Würden Sie die Entscheidung, nach Berlin zu gehen, heute nochmal so treffen? MARTINSEN: Die Gründe habe ich genannt, daran hat sich nichts geändert.Wir brauchen vor allem auch die Kooperation mit der Politik, um Schienenverkehrstechnik international voranzubringen - also die Nähe zur Bundesregierung. TAGESSPIEGEL: Das heißt, Sie wollen sich der Politiker stärker als Akquisiteure bedienen, wie es die Franzosen schon lange tun? MARTINSEN: Wir wollen auch im Schatten der Politiker segeln.Wir brauchen stabile politische Beziehungen, damit sich so langfristige Großprojekte etwa in Asien überhaupt rechnen.Schon die Vorakquisition kostet ein wahnsinniges Geld, das investiert man nicht ins Blaue.Das alles spricht für Berlin.Ich würde heute wieder so entscheiden, aber mit einer nüchterneren Einstellung hierher kommen. TAGESSPIEGEL: Das heißt, die zwei Jahre, die Sie sich einmal als Frist gesetzt hatten, werden verlängert? MARTINSEN: Ich würde heute solche Zeitgrenzen nicht mehr ziehen.

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