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Wirtschaft: Ingrid Hoesch

(Geb. 1933)||Oft gelang die Heilung schon durch die Kraft ihrer Aufmerksamkeit.

Oft gelang die Heilung schon durch die Kraft ihrer Aufmerksamkeit. Sie hatte die seltene Gabe, dem Widrigen stets das Gute abgewinnen zu können. Gelegenheiten dazu gab es viele.

Sie war das Lieblingskind ihres Vaters, der im Jahr ihrer Geburt der NSDAP beitrat.

Eberhard Kluge bewirtschaftete im Auftrag der Großherzöge von Sachsen-Weimar den ehemaligen Klosterbesitz Heinrichsau, seinerzeit das größte schlesische Gut. Die Familie wohnte im Prinzenhaus, neben dem Schloss – bis die Front näher rückte. Sie konnte fliehen, fand schließlich Zuflucht in einem Kloster nahe Köln.

Die Mutter erlitt Nervenzusammenbrüche in Serie und flüchtete sich in eine bigotte Frömmigkeit. Ingrid, kaum dreizehn, übernahm das Regiment. In einer kleinen Klosterzelle hausten sie: fünf Kinder, die Mutter, und im Winter gesellten sich noch die Klosterhühner dazu. Ingrid meldete sich gegen den Widerstand der Mutter im Gymnasium an, morgens acht Kilometer Fußweg, dann zwanzig Minuten mit der Eisenbahn.

Die Lage der Familie besserte sich erst, als der Vater 1949 aus dem Kriegsgefangenenlager in Dachau entlassen wurde; er war als Viehzuchtreferent in der Ukraine, später in Frankreich tätig gewesen, sein Rang: Sonderführer. Aber darüber wurden nicht viele Worte verloren.

In der Schule hatte sich Ingrid Hoesch, wiewohl Protestantin, dem Quickborner Kreis angeschlossen, einer katholischen Jugendbewegung, die die Menschen, nicht die Amtsträger als eigentliche Erben Christi sah: Der Altar gehört in die Mitte in der Kirche. Und sie fand endlich den Mut, ihre Mutter zurechtzuweisen: „Schluss! Du schlägst mich nicht mehr!“

Aber kaum, dass sie ihr Medizinstudium abgeschlossen hatte, fügte sie sich doch in die vorgegebene Rolle. Sie gebar drei Kinder, durchlitt zwei Fehlgeburten, bis ihr auf ihre dringliche Nachfrage hin ein Moraltheologe gestattete, Knaus- Ogino zu verabschieden und die Pille zu nehmen.

Ihr Mann kam nach Berlin, arbeitet als Jurist in der Ständigen Vertretung in Ost- Berlin, und sie konnte endlich ihre Arbeit als Ärztin aufnehmen. Die Praxis, direkt neben ihrer Wohnung gelegen, verzichtete fast vollständig auf Apparate.

Die Patienten saßen ihr gegenüber, dieser kleinen, agilen Frau mit dem forschenden Blick, und sie tat zunächst nicht mehr, als das Gespräch zu suchen. Nicht jedes Leiden, aber manches erklärt sich durch die verunglückte Suche nach Glück, nach Sinn, nach Gott – Decknamen des Abwesenden gibt es zuhauf. Ingrid Hoesch verstand es, den Finger auf die Wunde zu legen, sehr sacht. Und oft gelang die Heilung schon durch die Kraft ihrer Aufmerksamkeit.

Sie gewann viele Freunde in den Künstlerkreisen Ost wie West, sie versuchte, sie alle ins Gespräch zu bringen – und zu begeistern für ihre Neugier nach dem, was die meisten aus Scheu vor Pathos nicht mehr zu fragen wagen: Wo ist der Sinn in unserem Tun?

Sie hatte eine Mühle auf dem Land gekauft, dorthin lud oft sie ein, dort wollte sie eine Begegnungsstätte für fragende Laien wie Experten schaffen. Zur Jahrtausendwende hatte sie ihre Praxis deswegen aufgeben wollen, da erhielt sie die Diagnose ALS: unheilbare Rückenmarkserkrankung. Sie wusste als Medizinerin natürlich, was auf sie zukommen würde und wehrte sich mit allen Mitteln, befragte Fachärzte wie Quacksalber. Selbst nach Lourdes fuhr sie, aber ihr war nicht zu helfen. Das Wunder blieb aus.

Von den Zehen aufwärts kroch die Lähmung den Körper hoch, bis sie vollends still lag, künstlich beatmet mit einer Maske.

Matratzengruft und Wochenbett zugleich: Sie wollte die Zeit nicht totschlagen, also lebte sie ihr Leben noch einmal, überdachte noch einmal alle Fragen, genoss die Freundschaften, die sie erlebt hatte. Und diktierte ihre Memoiren.

Am 13. Februar 2004 begann sie, denn: „Die Zahl dreizehn ist im jüdischen Kalender eine Glückszahl“, so der erste Satz des Buches. An dem Tag war ihr Geburtstag, war ihr Vater aus der Gefangenschaft gekommen, hatte sie Abitur gemacht.

Zwei Stunden, drei Stunden Diktat am Tag, unendlich mühsam, denn sie konnte nur noch die Zunge und das eine Auge bewegen. Gestundete Zeit: Der Fluch der Krankheit wendete sich zum Glück, denn sie konnte sich selbst und alles Geschehene noch einmal wissend in den Blick nehmen. Ihr Buch des Lebens – sie hat es selbst diktiert bis zu den letzten Worten, die der Suche ein Ende machten: „Gott ist in euch allen.“

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