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Die Unternehmerin und die Kunst. Ingeborg Neumann in der Peppermint-Zentrale am Ku’damm.

© Mike Wolff

Innovationen aus Deutschland: Herzklappe aus Textilien

Die Berliner Unternehmerin Ingeborg Neumann führt den Verband textil+mode, der eine der innovativsten Industriebranchen vertritt.

Im Fach Hauswirtschaftslehre lernt man fürs Leben. „Ich war als Schülerin extrem gut im Nähen und habe auch Strümpfe und Schals gestrickt“, erinnert sich Ingeborg Neumann. Die Eigentümerin einer Unternehmensgruppe mit 750 Mitarbeitern steht im 14. Stock des Neuen Kranzlerecks am Ku’damm und schaut auf West-Berlin. „Cool“ findet die gebürtige Krefelderin die Stadt, in der sie seit 1991 lebt und sich unter anderem im Vorstand des Vereins der Freunde der Nationalgalerie engagiert. Hier, in der Zentrale ihrer Peppermint-Holding, hat sie gerade vom bildenden Künstler Michael Just eine Installation anbringen lassen. Über die volle Länge des Flurs, und das sind immerhin knapp 80 Meter, hat der Künstler einen Text von Friedrich Nietzsche auseinandergenommen und mit den Buchstaben die Wände bestückt. „Alles Gerade lügt. Alle Wahrheit ist krumm, die Zeit selber ist ein Kreis“, spricht der Philosoph. Und Neumann strahlt. Die Kunst ist ihre Welt.

An der BDI-Spitze ist Neumann die einzige Frau

Mit der staubtrockenen Berliner Verbändewirtschaft bringt man die agile Unternehmerin („Es geht mir immer zu langsam. Wir brauchen mehr Speed.“) auf den ersten Blick nicht in Verbindung. Sie amtiert als Präsidentin des Dachverbands textil+mode und als Vizepräsidentin des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) – die einzige Frau neben acht Herren. Industrie ist eben immer noch Männersache. Ausnahmen wie Neumann bestätigen die Regel.

Eine Ausnahme war sie schon in den 1980er Jahren bei Arthur Andersen in München, wo Neumann nach dem BWL- Studium als Wirtschaftsprüferin arbeitete. „In Führungspositionen gab es damals nicht viele Frauen, das war schon etwas Besonderes.“ Ein paar Jahre später, Anfang 1991, landete sie in Berlin bei der Treuhandanstalt. „Das hat mein Leben total verändert.“ Sie ist Anfang 30 und nun zuständig für ein Dutzend Textil- und Möbelfirmen mit vielen tausend Mitarbeitern. Die Beraterin muss jetzt entscheiden über Firmen und Arbeitsplätze. „Das Gestaltenkönnen war faszinierend“, blickt sie zurück in eine turbulente Zeit, in der es „kaum jemanden gab, der bereit war, zu investieren“. Schon gar nicht in die Textilindustrie.

1991 begann sie bei der Treuhandanstalt

Der Sprung aus dem schmucken München in den notleidenden Osten fiel Neumann nicht schwer, wenngleich sie den Geruch und die graue Anmutung der Städte „irritierend“ fand. Die Action in den Treuhandjahren überlagerte aber alles. „Man musste machen, schnell, klar und effizient.“ Eine Teppichfabrik in Sachsen verkaufte sie an einen Investor aus England, später übernahm das Management die Firma, die es auch heute noch gibt. Privatisieren statt Sanieren – nach dieser Maßgabe verkauften die Treuhänder im Auftrag der Bundesregierung die ostdeutsche Wirtschaft. „Heute kann man sagen: Ja, wir hätten an manchen Stellen viel mehr Zeit gebraucht“, meint Neumann. Von den 13 ihr anvertrauten Firmen hat sie sieben privatisiert – und die übrigen mit Partnern selbst übernommen. „Wir haben der Treuhand ein attraktives Paket mit Perspektive, Arbeitsplatzgarantien und einem angemessenen Kaufpreis geboten und erhielten schließlich den Zuschlag“, sagt Neumann zu der ungewöhnlichen Konstellation.

Die einzige Bank, die damals den Deal finanzieren wollte und mit einstieg, war die Dresdner. 1997 entstand die Peppermint Holding, später kaufte Neumann der Bank deren Anteile ab, seit 2002 gehört ihr Peppermint mit sechs Fabriken in Sachsen, Tschechien und Rumänien allein. Und es läuft rund. Ob in der Zwickauer Kammgarnproduktion, deren Anfänge bis 1835 zurückreichen, bei der Herstellung von Heimtextilien oder beim Veredeln von Fasern und Stoffen – Neumanns Firmen geht es gut.

Bei technischen Textilien ist Deutschland Weltmarktführer

Bis Anfang der 1970er Jahre war die Textilwirtschaft in beiden Teilen Deutschlands sehr präsent mit fast 8000 Unternehmen. Dann kamen die Verlagerungswellen – erst in die Türkei, anschließend nach Asien und Afrika. Und die Karawane zieht immer weiter. „Ein Teil der Textilindustrie kommt zurück, vor allem nach Osteuropa, nicht zuletzt weil China teurer geworden ist“, hat Neumann beobachtet. Die Hersteller technischer Textilien haben ihren Platz in Deutschland gehabt und sind sogar Weltmarktführer. Insgesamt exportiert die Branche Waren im Wert von 25 Milliarden Euro und ist einer der wichtigsten Lieferanten für die Auto- und Luftfahrtindustrie, den Maschinenbau und die Medizin.

„Textilien sind extrem kompliziert, der Produktionsprozess ist komplex“, sagt die Peppermint-Chefin. Das kann man wohl sagen. Zum Beispiel Implantate zur Knochen- und Knorpelregeneration. Dazu wird Chitosan gebraucht, das aus Krabbenschalen gewonnen wird. Die aus dem Naturmaterial hergestellten Fasern sind deshalb gut geeignet, weil sie biologisch abbaubar, „deformationsstabil und druckelastisch“ sind.

16 Forschungseinrichtungen befassen sich hierzulande mit Textilien, eine davon ist das Hohenstein-Institut. Hier wurde für Frühchen die weltweit erste künstliche Gebärmutter entwickelt. „Das ,Smart Textiles’-Gerät überträgt Frühgeborenen direkt in den Inkubator die fehlenden sensorischen Reize der Mutter – vor allem Herzschlag und Stimme sowie mechanische Eindrücke, die den sanften Bewegungen im Mutterleib entsprechen“, heißt es in einer Beschreibung. Unglaubliche Dinge sind in Arbeit. An der RWTH Aachen gibt es einen Professor, der als Herzchirurg und Textilforscher zugleich tätig ist und der bis Ende des Jahrzehnts die erste Transplantation einer mitwachsenden textilen Herzklappe erwartet. „Medizintechnik wird textil“, sagt dazu die Textilunternehmerin Neumann.

Vor 6000 Jahren wurde der erste Webstuhl erfunden

Der Werkstoff ist uralt. In einer Höhle im Kaukasus fand man gefärbte und geknotete Pflanzenfasern, die mehr als 30 000 Jahre alt sind. Viel später, ungefähr 4000 Jahre vor Christus, wurde der erste Webstuhl erfunden. In der Gegenwart gehören technische Textilien „zu den fünf Hightechbereichen mit dem höchsten Entwicklungspotenzial für die Zukunft“, wie es in einer Verbandsbroschüre zur Werbung von Azubis heißt.

„Das Image der Branche verändert sich positiv, denn wir haben gute und sichere Arbeitsplätze“, sagt Neumann. Dazu akzeptierten immer mehr Firmen die Prinzipien zum Schutz der Menschen- und Arbeitsrechte in einem Code of Conduct und hierzulande die Kriterien eines Textilbündnis, bei dem es um Einhaltung sozialer und ökologischer Standards gehe.

Und zwar weltweit und gerne auch im Rahmen des Freihandelsabkommens TTIP. „Es gibt bei Kleidung ganz unterschiedliche Zölle, zum Beispiel ist das für den Herrenanorak anders als beim Damenanorak“, was gerade kleinen Unternehmen das Leben schwer mache. Selbstkritisch meint die Verbandschefin, die Wirtschaft habe es versäumt, „das Thema von Anfang an mit besonderem Nachdruck zu kommunizieren“. So ähnlich wie bei den anderen Aufregerthemen Erbschaftsteuer und Frauenquote, die aus Neumanns Sicht den Familienunternehmen nur das Leben erschweren.

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