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Heiner Geißler

© dpa

Interview: "Die Anarchie muss ein Ende haben"

Heiner Geißler fordert neue Regeln für den Kapitalismus – er hofft auf Barack Obama.

Herr Geißler, Sie warnen schon lange vor ungezügelten Märkten. Verspüren Sie in Zeiten der Krise Genugtuung?



Genugtuung kann ich nicht empfinden, denn es verlieren jetzt Hunderttausende von Menschen ihre Stelle. Da packt mich der heilige Zorn! Aus Dummheit werden nun Vermögen und Eigentum anderer Menschen vernichtet, durch Spieler, durch Spekulanten.

Worin liegt der tiefere Grund der Krise?

Dem heutigen Kapitalismus fehlt das ethische Fundament, und ohne dieses Fundament funktioniert der Kapitalismus ebenso wenig wie der Kommunismus. Man hat geglaubt, der Markt sei der Gott und werde alles richten.

Der böse Markt ist schuld an allem?

Kapital ist nichts Schlechtes, im Gegenteil, man kann nicht genug davon haben. Aber das Kapital hat den Menschen zu dienen – und nicht die Menschen zu beherrschen. Heute sind die Menschen den Interessen des Kapitals unterworfen.

Wie zeigt sich das?

Die ganze Gesellschaft ist tiefgreifend ökonomisiert: sogar in der Gesundheits- und Bildungspolitik. Der Mensch wird heute nicht mehr wegen seiner Hautfarbe diskriminiert, wegen seiner Herkunft oder wegen seiner Religion – nein, der Mensch wird diskriminiert als Kostenfaktor. Er gilt umso mehr, je weniger er kostet. Und er gilt umso weniger, je mehr er kostet. Das ist die eigentliche Sünde des heute geltenden Wirtschaftssystems.

Sie halten es für bankrott?


Der Kapitalismus, wie wir ihn seit den 80er Jahren haben, ist genauso falsch, wie es der Kommunismus war. Der Kapitalismus hat sich länger gehalten – die Mauer fiel vor ziemlich genau 20 Jahren –, weil man lange daran geglaubt hat, der Kapitalismus habe den Kommunismus besiegt.

So ist es doch.

Nein, die Sowjetunion ist nicht vom Kapitalismus besiegt worden, sondern von Ideen, die das Volk in sich trug: Die Menschen wollten Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Deshalb riefen sie in der DDR „Wir sind das Volk!“.

Als CDU-Generalsekretär forderten Sie „Freiheit statt Sozialismus“. Und heute sehen Sie zu viel Freiheit?

In den 70er und 80er Jahren war von den drei Grundwerten Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit die Freiheit besonders gefährdet – durch den sowjetischen Totalitarismus. Heute ist nicht mehr die Freiheit gefährdet – wo auch?

Sondern?


Heute ist die Brüderlichkeit gefährdet: Die Solidarität zwischen Jungen und Alten, Armen und Reichen, Industrieländern und Entwicklungsländern. Diese Solidarität ist durch den überbordenden Kapitalismus bedroht. Deshalb müsste heute die Parole lauten: „Solidarität statt Kapitalismus“.

Aber wir entfernen uns doch vom Kapitalismus: Die Staaten, allen voran die USA, pumpen Milliarden in die Wirtschaft.


Das ist Nothilfe, kein Systemwechsel. Sonst würden Milliarden Menschen die Folgen der kriminellen Spekulanten spüren. Nothilfe ist immer nur ein erster Schritt.

Was wäre der zweite Schritt?


Das System muss ersetzt werden durch eine wirkliche Wirtschaftsordnung, es braucht Regeln. Heute haben wir keine Wirtschaftsordnung, sondern eine Wirtschaftsanarchie. Und es gibt eine Alternative zu Kapitalismus und Kommunismus: die sozial-ökologische Marktwirtschaft.

Wer soll die neuen Regeln schaffen?


Solange wir keine Weltregierung haben, muss dies durch bilaterale und multilaterale Vereinbarungen zwischen den Industriestaaten geschehen, China, Indien und Brasilien eingeschlossen. Auch Institutionen wie der IWF, die Weltbank und die Welthandelsorganisation WTO – die bis jetzt versagt haben – müssen ausgebaut und demokratisiert werden.

Ist das nicht illusorisch?

Wenn es illusorisch wäre, könnten wir jetzt zusammenpacken, und ich werde mit 78 noch Bergführer! Nein, ich glaube, dass die jetzige, tiefe Krise Dinge möglich macht, die wir bislang für undenkbar hielten. Ich hoffe auch auf Barack Obama, denn in der Vergangenheit waren es meist die USA, die verhindert haben, dass die Staaten übergreifende Vereinbarungen trafen.

Und Angela Merkel?

Sie macht gute Arbeit. Ich habe mich früh um sie gekümmert, schon als ich CDU- Generalsekretär war. Sie hat einen kapitalen Fehler korrigiert, indem sie das neoliberale Programm des Leipziger Parteitags wieder umgestoßen hat. Merkel hat, weil sie Naturwissenschaftlerin ist, einen Riesenvorteil: Sie reagiert richtig auf physikalische Fakten. Die letzten Bundestagswahlen waren ein Votum gegen die neoliberalen Reformen, und Merkel zog daraus messerscharf Konsequenzen. Im Gegensatz zur SPD, die weiter an der Agenda 2010 festhielt und festhält.

Das Interview führte Patrik Müller.

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