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Michael Kanert ist seit 1995 am Berliner Sozialgericht tätig. Die Veränderung durch die Arbeitsmarktreform hat der 49-Jährige hautnah miterlebt.

© Thilo Rückeis

Interview: „Hartz IV ist ein absolutes Sorgenkind“

Michael Kanert, Richter am Berliner Sozialgericht, über die Klagewelle in der Hauptstadt und die Schwachstellen der Arbeitsmarktreform.

Herr Kanert, wie viele Hartz-IV-Verfahren sind beim Berliner Sozialgericht anhängig?

Am Gericht sind es insgesamt rund 40000 Fälle, ein großer Teil betrifft Hartz IV. Allein hinter mir liegen über 300 Akten, die ich betreue. Das sind so viele, dass ich meine Zimmertür fast ein Jahr lang schließen müsste, um das abzuarbeiten.

Sind es durch Hartz IV mehr geworden?

Ja! Früher hat das Verwaltungsgericht sich um die Sozialhilfe-Fälle gekümmert, und wir haben uns mit der Arbeitslosenhilfe befasst. Pro Jahr hatten beide Gerichte zusammen rund 6500 neue Fälle. Jetzt, mit Hartz IV, sind es mehr als viermal so viele Verfahren. Heute beschäftigen sich etwa 70 Richter am Sozialgericht mit diesem Bereich.

Die Bundesagentur verweist darauf, dass das eine geringe Zahl ist, bei 30 Millionen Bescheiden, die sie im Jahr verschickt.

Es nützt niemandem, die vielen Klagen kleinzureden. Dass trotz der steigenden Zahlen die Erfolgsquote für die Kläger nicht gesunken ist, weist doch auch auf strukturelle Probleme hin. Zum Beispiel haben die Jobcenter bei Sanktionsbescheiden zeitweise bundesweit zwei Drittel der Verfahren verloren, häufig wegen vermeidbarer formaler Fehler.

Wie hoch ist die Erfolgsquote der Hartz-IV-Kläger in Berlin?

Die ist im Laufe der Jahre sogar gestiegen. Sie liegt hier in Berlin bei 55 Prozent. Nicht alles wird aber durch einen Urteilsspruch besiegelt, ein großer Teil wird auch während des Verfahrens gütlich beigelegt.

Woran liegt es, dass sich nach Jahren der Erfahrung mit dem Gesetz hinter Ihnen immer noch die Akten stapeln?

Die Bescheide sind oft sehr kompliziert, das überfordert die Menschen. Mehr Beratung würde die Zahl der Verfahren sicher reduzieren.

Warum gehen die Leute nicht erst mal zu ihrem Sachbearbeiter, wenn sie etwas nicht verstehen?

Das hat verschiedene Gründe. Bevor man zum Sachbearbeiter vorgelassen wird, der die Entscheidung trifft, muss man seinen Fall mehrmals schildern, in der Eingangszone, in der zuständigen Abteilung beim Teamassistenten. Da geben manche Leute auf. Zum Zweiten fehlen den Jobcentern, wie ich immer wieder höre, die personellen Ressourcen, sich intensiv um jeden Fall zu kümmern.

Die Jobcenter sind also überlastet.

Ich kriege häufig Schreiben von Jobcentern, dass sie Fälle wegen Personalengpässen nicht so schnell bearbeiten können, gerade in Bezirken mit hoher Arbeitslosigkeit.

Worum geht es bei den Klagen?

Viele Fälle befassen sich mit Verrechnungsfragen, also wenn die Menschen arbeiten oder zusätzlich andere Sozialleistungen erhalten. Da passieren Rechenfehler oder es gehen Unterlagen verloren. Manchmal ist es aber auch unvermeidlich, dass erst im Nachhinein die Leistung richtig abgerechnet werden kann.

Zum Beispiel?

Hier vor mir liegt ein Fall. Die Akte ist inzwischen 800 Seiten dick, da die Familie seit Jahren auf Hartz IV angewiesen ist, obwohl der Vater arbeitet. Schließlich wurde er krank. Dadurch bekam er zunächst einmal doppelt Geld: Krankengeld und Hartz IV. Das Jobcenter hat das schließlich verrechnet und wollte 6000 Euro zurück. Der Mann war so erschrocken über die Summe, dass er direkt zum Anwalt gegangen ist. Hier ist die Rechtslage aber klar, der Mann muss zahlen.

"Ich verurteile Leute dazu, das erschlichene Geld auf Heller und Pfennig zurückzuzahlen."

Man hört immer wieder von Bagatellverfahren, bei denen es um wenige Euro geht.

Ja, auch das kommt häufig vor. Ich hatte letztens einen Fall auf dem Tisch, bei dem 80 Cent Mahngebühren verlangt wurden. Da war es schon teurer, den Bescheid überhaupt zu erlassen.

In den Medien wird immer wieder von Fällen berichtet, wo der Staat betrogen wird.

Man darf spektakuläre Einzelfälle nicht verallgemeinern. Thilo Sarrazin mit seinen Tipps zum Verzehr von Bierschinken und der damalige Wirtschaftsminister Wolfgang Clement, der in einer offiziellen Broschüre über den Sozialstaat das Wort „Parasiten“ verwendete, haben gleich in der Anfangszeit von Hartz IV einen falschen Eindruck entstehen lassen. Das hat damals das Klima zwischen Bürgern und Jobcentern vergiftet, weil die Menschen sich nicht respektiert fühlten. Dabei ist es doch so: Wer Hartz IV bezieht, lebt am Existenzminimum, und das ist kein leichtes Leben.

Clement sprach von Missbrauchsquoten von 20 Prozent.

Das kann ich nicht bestätigen. Auch die offiziellen Statistiken der Jobcenter sprechen nur von zwei bis drei Prozent.

Bildergalerie: Zehn Jahre Hartz-Reformen

Was passiert mit solchen Fällen?

Ich verurteile die Leute dazu, das erschlichene Geld auf Heller und Pfennig zurückzuzahlen. Und in gravierenden Fällen schicke ich die Akten auch an die Staatsanwaltschaft. Das ist aber sehr selten. Ich habe gerade den Fall eines selbstständigen Aufstockers bearbeitet, der Geschäftsessen für 500 Euro von seinen Einnahmen absetzen wollte und zweifelhafte Buchungen über die Konten seiner Familienangehörigen geführt hatte. Er hat seine Klage sogar freiwillig zurückgenommen.

Vor zehn Jahren wurden die Hartz-Reformen von der damaligen rot-grünen Bundesregierung angestoßen. Was war damals Ihr Blick auf die Gesetze?

Ich fand einige Ideen gut, etwa, dass alle Leistungen aus einer Hand kommen, statt dass Sozialamt und Arbeitsamt nebeneinander her die Arbeitslosen verwalten. Doch das ist gar nicht umgesetzt worden.

Warum?

Die Politik ist sich nicht einig geworden, ob nun der Bund oder die Kommunen für Hartz IV verantwortlich sein sollen. Niemand wollte diesen wichtigen Bereich aus der Hand geben, da geht es schließlich um Milliarden. Nun haben wir eine Mischverwaltung...

...die das Bundesverfassungsgericht 2007 für verfassungswidrig erklärt hat.

Zu recht. Es ist völlig unklar, wer die Verantwortung trägt. Wenn Abgeordnete sich beim Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit über die Berliner Jobcenter beschweren, kann er zur Bundesagentur verweisen und andersherum. Doch statt das Hartz-Gesetz zu ändern, hat man lieber das Grundgesetz angepasst.

Gibt es keinen Reformwillen?

Doch, aber Länder und Bund und Kommunen haben Angst, an den finanziellen Stellschrauben zu drehen, in diesem komplexen Geflecht. Hartz IV ist an manchen Punkten komplizierter als das Steuerrecht! Aus Angst vor endlosen Verhandlungsrunden bleibt dann vieles, wie es ist.

"Es wurde bisher 54 mal überarbeitet, so oft wie kein anderes Gesetz."

Was würden Sie vereinfachen?

Beim Kindergeld gibt es viele Debatten, besonders, wenn die Eltern getrennt sind. Hier wäre es einfacher, statt Kindergeld die Hartz-IV-Leistungen für Kinder zu erhöhen. Und ich wäre für die Einführung von Bagatellgrenzen, damit die vielen kleinen Fälle rausfallen, wo es um wenige Euro geht. Manche Regeln gehen auch an der Realität vorbei. So wird ein erkrankter Arbeitnehmer, der gerade noch drei Stunden am Tag arbeiten kann, als erwerbsfähig eingestuft. Aber welche Firma stellt so jemanden ein?

Gibt es positive Reformbeispiele?

Ja, bei den Mieten, da standen sich lange die Blöcke gegenüber. Der Bund hat nur gesagt, sie müssen „angemessen“ sein, die Kommunen mussten das Gesetz auslegen. Jetzt hat der Bund die Zuständigkeit abgegeben und es gibt eine klare Regelung.

Ist Hartz IV ein erfolgreiches Gesetz?

Arbeitsmarktpolitisch kann ich das nicht bewerten, aber juristisch gesehen ist es ein absolutes Sorgenkind: In zwei zentralen Punkten wurde es für verfassungswidrig erklärt, und auch die Politiker fühlen sich offenbar nicht besonders wohl damit. Es wurde bisher 54 mal überarbeitet, so oft wie kein anderes Gesetz.

Ist es ungerecht?

Das Parlament ist verpflichtet, dafür zu sorgen, dass allen Bürgern eine menschenwürdige Existenz garantiert ist. Im Grundgesetz steht aber kein konkreter Geldbetrag. Deshalb muss das Existenzminimum durch transparente Statistiken ermittelt werden.

2010 wurden die Hartz-IV-Sätze für verfassungswidrig erklärt und leicht angehoben. Sind sie jetzt gerecht?

Das wird gerade erneut debattiert. Eine Kammer des Berliner Sozialgerichts hat im April das Bundesverfassungsgericht angerufen, weil sie auch die neue Regelung nicht als transparent erachtet. Zudem meint sie, es müssten 36 Euro mehr sein.

Und Sie?

Ich glaube, dass allein die 36 Euro nicht das Problem von Hartz IV lösen können. Im Gesetz steht ausdrücklich, dass die Leistungsempfänger eine „ganzheitliche“ Betreuung bekommen sollen, also beispielsweise auch Schuldnerberatung, Suchtberatung oder eine psychosoziale Unterstützung. In den Fällen, die ich erlebe, kommt das oft zu kurz. Vielen dieser Menschen fehlt jede Zukunftsperspektive.

Haben Sie ein Beispiel?

Immer wieder gibt es Leute, die ihre Strom- und Gasrechnung nicht zahlen, obwohl sie das Geld vom Jobcenter bekommen haben. Ich hatte gerade einen Fall, wo eine alleinerziehende Mutter mit drei kleinen Kindern im Dunkeln saß. Vor Gericht habe ich auch das Jugendamt dazu gebeten, und alle Beteiligten haben schnell gemerkt, dass hier etwas nicht stimmt. Nun bekommt die Mutter eine Beratung zum Umgang mit Geld, das Jugendamt wird sich die Verhältnisse genau ansehen. Und das Jobcenter hat die Stromrechnung vorerst bezahlt, als Darlehen.

Was ist ihr schwierigster Konflikt gewesen, an den sie sich erinnern können?

Viele Fälle sind kompliziert, selbst wenn die Frage juristisch klar ist. Zum Beispiel wenn ein Mensch raus muss aus der Wohnung, weil sie zu teuer ist, obwohl er ein ganzes Leben dort verbracht hat. Gerade hatte ich den Fall eines jungen Mädchens, deren Vater gestorben war. Sie zog Hals über Kopf zu einer Freundin nach Berlin, und braucht Unterstützung, bis Sie einen Ausbildungsplatz gefunden hat. Weil Dokumente fehlten, verwehrte das Jobcenter ihr zunächst die Zahlung von Hartz IV – obwohl sie erkennbar überfordert war und Hilfe brauchte. Bei Hartz IV wird oft nur auf die finanzmathematische Lösung geschaut, der Rechtsfrieden kommt immer wieder zu kurz. Und dafür müssen dann wir Sozialrichter sorgen.  

Plagen Sie manche Fälle nach der Arbeit?

Ja. Aber vor allem plagt mich, dass gerade über 300 Menschen auf meine Entscheidung warten.

Das Interview führte Jahel Mielke.

Michael Kanert ist seit 1995 am Berliner Sozialgericht tätig. Die Veränderung durch die Arbeitsmarktreform hat der 49-Jährige hautnah miterlebt. Dabei führte Kanert der Weg nach dem Jurastudium in Freiburg und Heidelberg zunächst in den Journalismus. Zwei Jahre lang arbeitete der gebürtige Schwabe für die „Südwestpresse“ in Ulm, bis es ihn in die Hauptstadt zog. Von Oktober 2010 bis November 2011 war Kanert Sprecher der Senatsverwaltung für Justiz.

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