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Günter Verheugen ist Honorarprofessor an der Viadrina-Universität in Frankfurt (Oder).

© picture-alliance/ dpa

Interview mit Günter Verheugen: „Die Kontrollwut der Amerikaner ist obsessiv“

Günter Verheugen, ehemaliger EU-Industriekommissar, wirbt im Tagesspiegel-Interview für einen europäischen Internetdienst als Reaktion auf die Abhör-Praktiken der USA.

Herr Verheugen, ist Ihnen mulmig, wenn Sie dieser Tage Ihre E-Mails öffnen?

Ich gehe mit meinen Daten sehr restriktiv um. Daher bin ich relativ entspannt.

Millionen Internetnutzer dürften das anders sehen, die NSA greift ihre Mails ab.

Einen Schutz der Privatsphäre gibt es offenbar nicht mehr. Daten, Geschäftsgeheimnisse oder politische Vertraulichkeit sind nirgends sicher. Da ist mehr bedroht als die Freiheit des Internets. Das muss man dringend korrigieren.

Überrascht es Sie, wie intensiv die Geheimdienste mit den großen Internet-Unternehmen zusammenarbeiten?

Ich habe geglaubt, dass die Internet-Konzerne sich gegen die Daten-Sammelwut zur Wehr setzen. Schon, weil es ihr Geschäftsmodell untergräbt, wenn die Nutzer um ihre Daten fürchten müssen.

Google gibt sich empört über den Datendiebstahl. Ist das echt?

Wir wissen nicht, unter welchem Druck diese Konzerne stehen. Aber dass sie sich zu Hilfsermittlern des Staates haben machen lassen, ist erschreckend. Die Amerikaner dürfen nicht ihre Vorstellungen von innerer Sicherheit der ganzen Welt oktroyieren.

Was steckt hinter der Spionage der USA – Terrorangst oder Wirtschaftsspionage?

Was hat das Handy der Kanzlerin mit Terrorabwehr zu tun? Das spricht für tiefes Misstrauen und obsessive Kontrollwut. Der Schaden für die europäisch-amerikanischen Beziehungen wiegt schwer. Trotzdem wäre es falsch, ein neues Feindbild aufzubauen. Ein erster Schritt muss ein überprüfbares Abkommen sein, das Spionage-Praktiken ausschließt.

US-Konzerne dominieren das Internet. Warum nehmen Europäer das hin?

Offenbar haben deutsche und europäische Unternehmen die Chancen des Internets verschlafen. Zudem ist Europas Industriepolitik traditionell zurückhaltend, wenn es darum geht, Global Player zu schaffen. Die europäische Auffassung ist, das muss der Markt entscheiden – das hält Brüssel hoch wie ein Dogma. Zumindest bei der Machtverteilung im Internet sieht man nun, wohin dieses Laissez-faire führt. Der europäische Markt ist zu klein, um Standards für die ganze Welt hervorbringen zu können.

Immerhin geht es um 500 Millionen Verbraucher, mehr als in den USA.

Ja, aber Landesgrenzen und Sprachbarrieren wirken wie eine Bremse. Deshalb gibt es keinen europäischen Technik- oder Internetkonzern von Weltrang. Wir sollten aber alle wichtigen Schlüsseltechnologien selbst beherrschen. In den Bereichen, die den Wohlstand und das Leben von morgen bestimmen, dürfen wir nicht länger anderen die Technologieführerschaft überlassen.

Was muss geschehen?

Zum Beispiel müssen wir alles daransetzen, dass die Mikroelektronik in Europa bleibt und wettbewerbsfähig wird. Das finanzielle und technische Potenzial dazu hat Europa. So etwas entsteht aber nicht aus dem Markt heraus, das muss die Politik anstoßen. Bei der Flugzeugindustrie hat das ja schon einmal geklappt.

1970 gründeten Deutschland, Frankreich und Großbritannien Airbus als Gegenpart zu Boeing.

Wir brauchen mehr solcher Projekte. Das Satellitensystem Galileo, das eine Konkurrenz zum amerikanischen GPS-Netzwerk sein sollte, ist ja im Aufbau.

Aber nicht unbedingt ein Erfolgsbeispiel.

Galileo ist in der Tat eine Geschichte voller Missmanagement. Es zeigt aber, dass die EU bereit ist, für strategische Infrastruktur Geld in die Hand zu nehmen. Darum geht es bei Internet-Diensten ja auch – um Suchmaschinen und Cloud- Dienste, mit denen Menschen und Unternehmen ihr Leben und ihre Arbeitswelt organisieren. Wenn der Markt das nicht zuverlässig hinbekommt, muss man ihm auf die Sprünge helfen. Ein europäischer Internetdienst könnte ein Projekt für die neue Bundesregierung sein, die ja noch nach einem großen Ziel für die nächsten vier Jahre sucht.

Es scheint, dass die EU mit der Finanzkrise schon vollauf beschäftigt ist.

Einfach hinzunehmen, dass die USA diesen wirtschaftlich und kulturell immer wichtigeren Bereich dominieren, ist im immer schärferen globalen Wettbewerb nicht hinnehmbar. Europa muss bestimmte Schlüsseltechniken beherrschen und Unternehmen haben, die die Verfahren entwickeln und nutzen. Da geht es nicht nur um Robotik oder Nanotechnologie, sondern eben auch um Informationsnutzung und -auswertung.

Warum trauen Sie der europäischen Wirtschaft nicht zu, aus eigener Kraft etwas aufzubauen?

Amazon, Microsoft, Google, überall neigt das Internet zu übergroßer Marktmacht. Das ist gefährlich. Aus dem Stand wird kein europäisches Unternehmen gegen diese Quasi-Monopole bestehen können. Also ist es notwendig, ein europäisches Konsortium zusammenzubringen und es politisch zu unterstützen. Womöglich ist sogar eine Anschubfinanzierung aus öffentlichen Mitteln nötig. Binnen weniger Jahre könnte man eine schlagkräftige Einheit entwickeln. Eine solche Internet-Offensive könnte ein Neustart für die deutsch-französischen Beziehungen werden, die ja zur Fassade geraten sind. Zumal die Franzosen bei Staatseingriffen weniger zimperlich sind als wir Deutsche. Erfolg wird man aber nur haben, wenn es zugleich eine neue europäische Forschungspolitik gibt.

Warum?

Es ist ein Kernproblem europäischer Wirtschaftspolitik, dass Forschung und Entwicklung zu kleinteilig gefördert werden. Man fürchtet die Konzentration auf vier oder fünf Standorte, weil davon wenige Länder überproportional profitieren würden, darunter Deutschland. So verbrennt man die Mittel lieber in Tausenden von Kleinprojekten.

Das Silicon Valley gilt noch immer als das Maß der Dinge für die Hightech-Wirtschaft. Was kann Europa davon lernen?

Auch wir müssen Weltklasseforschung mit Weltklasseunternehmen kombinieren. Bei uns hapert es auch an der Umsetzung von Forschungsergebnissen in Produkte. Die in Deutschland erfundene MP3-Technologie ist das beste Beispiel. Niemand in Europa sah die Chancen. Das liegt auch daran, dass es in den USA eine größere Risikobereitschaft und viel mehr Risikokapital gibt. Bei uns rennen die Leute von Pontius zu Pilatus und bekommen keine Unterstützung.

Schmälert die Zersplitterung der EU-Kommission in 28 Kommissare Europas Gewicht in der Welt?

Das muss nicht so sein. Aber mit der Zahl der Kommissare ist auch die Zahl der Generaldirektionen, also der Fachressorts, gewachsen. Die haben ein ausgeprägtes Eigenleben und eine kohärente Politik ist nur schwer herstellbar. So wird Wichtiges aber auch Überflüssiges produziert. Ich setze die größte Hoffnung in das Parlament, dort ist das Problembewusstsein am größten.

Das Gespräch führte Carsten Brönstrup

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