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Wirtschaft: Joe R.

Geb. 1971

Nur wer mit beiden Händen schreiben kann, kann sich entscheiden. Das Mädchen holt tief Luft und singt: „Ich freue mich, wenn’s dir gut geht, wenn du singst und lachst und lebst…“Joe R. hat die Zeilen für seine Schüler vertont. Es ist eine unbekümmerte, kraftvolle Melodie.

Das Mädchen verstummt. „Stimmt das, was in der Zeitung stand?“, fragt es dann schüchtern. So geht es vielen ehemaligen Schülern und entfernten Bekannten von Joe: Das öffentlich gezeichnete Bild vom zart besaiteten Musiklehrer mit den düsteren Abgründen, vom willigen Opfer, lässt sie nicht los. Es passt so gar nicht zu dem Joe, den sie gekannt haben.

Joes Nachname darf hier nicht ausgeschrieben werden, weil seine Nahestehenden einstweilige Verfügungen gegen Sender und Zeitungsverlage erstritten haben. Sie befürchten, dass jeder Anlass genutzt wird, um das Urteil auszuhebeln.

Wer also war Joe R.? Nehmen wir die Melodie von oben wieder auf, und beginnen wir von vorn. Joe war ein ruhiges und freundliches Kind, Sohn einer Lehrerin und eines Pfarrers. Wer ihn besuchen wollte, musste im Regenrohr eine Geheimklappe öffnen und an der Schnur darin ziehen. Dann läutete in Joes Zimmer eine große Glocke.

Einer der Glöckner war Martin, er spielte im selben Orchester wie Joe.

Martin erinnert sich, dass Joe alles mit Tesafilm reparierte, gebrochene Stuhlbeine ebenso wie seine Brille. Besonders cool sah das nicht aus. Die Befreiung von Moden und Normen interessierte Joe mehr als ihre Erfüllung.

In den Sommerferien trampten Martin und Joe durch Europa. Sie schliefen in Burgruinen, und Joe erfand Geschichten. Eines Abends aber waren die wahren Geschichten an der Reihe. Martin sagte: „Ich habe mich verliebt. Sie heißt Katharina.“ Und Joe sagte: „Ich habe mich auch verliebt. Er heißt Mark.“

Das war es, das so genannte Outing. Der Freund schwieg, überlegte, und das Leben ging weiter wie zuvor.

Aus Mark wurde Dirk. Mit ihm war Joe einmal auf dem Christopher-Street-Day, einmal auf dem Schwulen Stadtfest. Dann nie wieder. Ja, er liebte einen Mann, er liebte ihn sehr, seit acht Jahren schon, aber Homosexualität war für ihn kein Lebensinhalt und auch kein Grund zum Feiern. Die Liebe schon. Joe und Dirk ließen sich kirchlich segnen.

„Glücklich lebten wir unser bürgerliches Leben“, sagt Dirk. Doch eine solide Basis ließ Joe noch lange nicht bequem und schläfrig werden. Einmal hat Martin einen Blick auf Joes Tagesplan erhascht: „6 Uhr – 6.15 Uhr: Linkshändig schreiben üben“. Nur wer mit beiden Händen schreiben kann, hat die Entscheidungsfreiheit! Auch in der Wahl seiner Freunde wollte er frei sein und sich nicht auf bestimmte Kreise beschränken.

Bei seinen Geburtstagen trafen sich Homos, Heteros, Metallarbeiter und Waldorflehrer. Sie betrachteten einander und wussten: Das Einzige was uns verbindet, ist Joe. Joe war glücklich, so sollte es immer und überall sein. Handwerk und Intellekt, Jung und Alt, Landleben und Kultur – Kann das denn nicht zusammenpassen?

Gemeinsam mit Freunden wollte er einen Ort schaffen, an dem Leute verschiedener Berufe und Generationen im selben Haus leben, arbeiten und voneinander lernen sollten. Dass Unzählige an diesem Traum gescheitert sind, schreckte sie nicht.

Wichtig war die Landwirtschaft, sie wollten unabhängig sein. Einer wurde Bauer, ein anderer studierte Architektur und gab als Abschlussarbeit ein Modell eben dieses Ortes ab. Joe lernte Klarinette und Klavier, denn das Paradies braucht vor allem Musikanten.

„Es ist, als würdest du ein spannendes Buch lesen. Gerade willst du umblättern, doch dann sind alle Seiten weiß“, sagen die Freunde. „Man könnte sagen, dass er angekommen war. Und nun beginnen wollte.“ Er hatte sich nach anfänglichen Zweifeln ganz für den Lehrerberuf entschieden und zum ersten Mal eine eigene Klasse übernommen. Dirk und Joe zogen endlich zusammen. Und Martin stellte fest, dass Joe kaum noch mit Tesafilm arbeitete. Zu ihm sagte Joe, er wolle demnächst zur Bank gehen und die Finanzierung ihres besseren Stückchens Welt gegenrechnen lassen.

Ihren letzten Urlaub haben Dirk und Joe in Kanada verbracht. Mitten in der Wildnis schlugen sie ihr Zelt auf. Während Dirk die Bären tapsen hörte, schlief Joe wie ein Kind an seinem ersten Tag.

Sein Haar war leicht und hell, beinahe rötlich.

„Schon seit Jahren wollten wir mit den Schülern Mozarts Requiem einstudieren“, sagt eine Kollegin. „Dass ausgerechnet dies unsere letzte Arbeit war.“

Joe hatte sich auf eine der Anzeigen gemeldet, von denen es in Stadtmagazinen und im Internet hunderte gibt: Partner für Fesselspiele gesucht. Er war keiner, der sich in Sexclubs oder Pornochats aufhielt. Wahrscheinlich suchte er nur ein unmoralisches Abenteuer. Eine Grenzüberschreitung, jetzt, da die Strukturen des Lebens fester wurden. Es war nicht richtig. Aber „richtig sein“ war sowieso nie Joes Interesse.

Warum gerieten seine Freunde in diesen Rechtfertigungszwang? Weil nach seinem Tod Joes Charakter infrage gestellt wurde. Überall wurde das Bild des empfindsamen Musiklehrers mit den perversen Abgründen verbreitet, der die Anzeige angeblich auf einer „Kannibalen-Seite“ entdeckt habe.

Das ist nicht wahr: Von den Mordphantasien des anderen hat Joe nichts geahnt. Die genauen Todesumstände sind bis heute ungeklärt. Sicher ist, dass er hinterhältig ermordet wurde. In der Schlacht um die Schlagzeilen scheuten die Reporter keine Mittel. Sie versuchten Interviews zu erpressen, belagerten das Haus, lauerten am nahen U-Bahnhof.

Dirk hat Joe noch einmal aufbahren lassen. Verstört von seinem Tod und den falschen Darstellungen der Presse näherten sich Freunde nur zögernd, als erwarteten sie einen Fremden. Doch dann sahen sie: Es war ihr Joe, der da lag.

Sie sagen: „Auf die Gefahr hin, dass wir als Trauernde der Parteilichkeit bezichtigt werden: Joe fehlt nicht nur uns. Er fehlt der Welt.“

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