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Wirtschaft: Jörn Michael Borchert

Geb. 1980

Elektroniker bei der BVG: Eine falsche Bewegung, und du bist weg. Sehr geehrter Herr Borchert,

ich berechne Ihnen für den Transport des Leichnams Borchert, Jörn Michael, Transportdatum 15.10.2004 durch den Fahrdienst des Landesinstitutes für gerichtliche und soziale Medizin eine Transportgebühr, 119,50 Euro, und für die Verwendung einer Hygea-Hülle zusätzlich 31,50 Euro…“

14. Oktober 2004. Tödlicher Arbeitsunfall auf der U-Bahnlinie U7. Jörn Borchert wird bei einer routinemäßigen Wartungsarbeit im U-Bahnschacht von einem Zug erfasst. Sein Handy, aufgeklappt, liegt neben dem Toten. Selbstverschulden unterstellt die BVG. Fahrlässiges Telefonieren.

Jörn Borchert, ruhig, lustig, schon als Kind viel mit sich selbst beschäftigt. Er spielte gern am Computer und ließ sich geduldig von seiner älteren Schwester ärgern, die das Zimmer mit ihm teilte – und den realistischen Blick aufs Leben.

Er wollte früh in den Beruf, ging ab mit der mittleren Reife. Irgendwas in der Metallbranche sollte es sein, wie beim Vater, der sein bester Kumpel war. Ende der achtziger Jahre gab es einen Kindergartenstreik, da richteten einige Betriebe selbst einen Hort ein, und er konnte sich im Betrieb des Vaters umsehen. Fahrscheinentwerter und Ticketautomaten wurden hergestellt. 1995 der erste Konkurs, 2001 der zweite, der endgültige.

Er wollte einen sicheren Job, bewarb sich bei mehreren großen Firmen. Für die BVG entschied er sich wegen des Ausbildungsprogramms. Und er wurde als einer der wenigen übernommen, denn er war ernsthaft und gern bei der Sache.

Ganz anders beim Bund. Da schwor er sich: „Im nächsten Leben Zivildienst.“ Das schlechte technische Material: „Allet nur altet Zeuch“, und die fahrlässige Ausbildung: „zum Kotzen“. Als Funker nahm er an einem der schlimmsten Pannenmanöver der letzten Jahre teil. Zwei junge Soldaten ertranken in der Ostsee. Er wusste, wohin Schlamperei führt.

Eine richtig feste Freundin hatte er damals nicht. Aber dann traf er eine junge Frau aus Leipzig – und hatte plötzlich einen Sohn. Ungeplant. Er klagte sein Sorgerecht ein, holte das Kind regelmäßig zu sich nach Berlin. Stets mit der Bahn, ein Auto hatte er nicht. Immer schön eins nach dem anderen.

Er ist gern gewandert, den Rhein rauf, durchs Elsass, nach Nordfrankreich; und er mochte Punk-Musik. Was er nicht mochte: Edelpunks in Guccischuhen, Studenten, die ihn und seine Kollegen herablassend musterten, wenn er mal in der Arbeitspause in eine Mensa geriet.

Mit einundzwanzig fing er an zu lesen, richtig, mit Bedacht, entdeckte die deutsche Geschichte. Alles Schritt für Schritt.

Sein Job als Energieanlagenelektroniker bei der BVG war gefährlich. Das wusste er. Jeder dort unten weiß: Eine falsche Bewegung, und du bist weg. Jörn war der Jüngste in der Arbeitskolonne, aber auch einer der Vorsichtigsten.

Lampen sollten ausgewechselt werden. Kurze Arbeitsphase, dann wieder an die Wand drücken, wenn die Züge kommen. Der Kollege stand im Notausstieg, vergewisserte sich, dass Jörn sicher zwischen den Pfeilern stand, konnte aus dem Schacht heraus aber nichts sehen, hörte nur den Knall, die Notbremsung und sah ihn dann tot auf den Gleisen.

„Eigenverschulden“. Er soll telefoniert haben. Die Verbindungsnachweise belegen: Das hat er nicht.

Siebzig Zentimeter zwischen den Zügen, die mit Tempo siebzig aneinander vorbeirauschen. Wer will da telefonieren?

Die Unfallkommission, die den Ort inspizierte, konnte sich ein gutes Bild machen: Die ersten beiden Züge fuhren langsam durch, der dritte mit voller Geschwindigkeit, beinahe hätte es sie selbst erwischt. Selbstverschulden? Unachtsamkeit? Am Tag zuvor hatte Jörn ein Puzzle zu Ende gebracht, 5000 Teile, ein halbes Jahr hat ihn das gekostet, aber er war bei der Sache geblieben.

Jörn Borchert ist niemandem etwas schuldig geblieben. Wohl aber das Land ihm. 151 Euro. Und etwas Pietät.

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