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Wirtschaft: Jürgen Niklaus

Geb. 1930

Er führte die Bücher im Haus und im Geschäft, Klaus bügelte und kochte. Am Tag, als seinem Lebensgefährten Klaus das Herz stehen blieb, war das alte Leben zu Ende. Da verkaufte Jürgen Niklaus, den alle nur Jo nannten, seinen Geschenkartikelvertrieb, stellte das Auto für immer an den Straßenrand, wurde Rentner und tat erst einmal gar nichts mehr.

33 Jahre hatten sie zusammen gelebt und gearbeitet, zuerst in der Drogerie, die Jo von seinem Großvater übernahm, dann in ihren Geschenkboutiquen am Ku’damm und im Tegelcenter, in denen sie Briefbeschwerer, Lampen und Vasen verkauften. Klaus und Jo, das war das „Wirtschaftswunderpaar in schwul“. Sie kauften eine Ferienwohnung an der Costa del Sol – Jo hatte immer Hunger nach Sonne. Doch zusammen waren sie nur selten dort, einer musste immer in Berlin bei den Geschäften sein.

In frühester Jugend hatten sie sich kennen gelernt: ein Paar fürs Leben, das von den Freunden als Rarität bewundert wurde. Jo führte in Haushalt und Geschäft akribisch die Bücher, hatte Hunderte von Preisen im Kopf, Klaus bügelte und kochte. Sie lebten zurückgezogen in ihrem selbst gebauten Bungalow mit Garten, luden Gäste zum Essen ein, demonstrierten der Nachbarschaft in Heiligensee bürgerliche Selbstverständlichkeit. Gemeinsam zahlten sie Jahr für Jahr die Kredite ab. Und als sie stolz auf das Erreichte zurückblicken wollten, fiel einer von ihnen tot um.

Jo war nun ein einsamer, älterer Mann in Jeans und kariertem Hemd, unauffällig und zurückhaltend. Erst nach Jahren am Strand von Gran Canaria lernte er einen Berliner kennen, der hartnäckig genug war, ihn aus seinem Schneckenhaus zu locken. Warum nicht mal ausgehen, nach der Rückkehr nach Berlin, auf ein Bier im „Harlekin“ oder in der „Kleinen Philharmonie“? „Und dann, gibt’s doch diesen schwulen Chor, die Männer-Minne. Das wäre doch was für dich, Jo!“ In seiner Jugend hatte er fürs Leben gern gesungen, sogar Songs komponiert, aber Klaus war seine knarrende Stimme auf die Nerven gegangen. Ihm zuliebe hatte er die Musik aufgegeben.

Sechs Monate nahm er Anlauf, bis er das erste Mal bei den Proben erschien. Den Chormännern war der ältere Herr in der Windjacke, der um das Haus herumschlich, schon länger aufgefallen. Er war verlegen, hielt sich mit seinen über 60 Jahren für uralt, fürchtete – nicht ganz grundlos – dass die schwule Welt eine ist, in der Jugend und Schönheit ganz besonders wichtig sind. Dabei konnte er, wie man alsbald entzückt feststellte, ganz passabel singen und Lieder komponieren, Liedtexte und Moderationen verfassen. Und erzählen konnte er wie ein Buch. Sie nahmen ihn mit offenen Armen auf, und bald war er von jungen Freunden umringt.

Jo lud die „Männer-Minne“ in sein Haus nach Heiligensee zu Chorproben, freute sich über die 30 trällernden Männer auf seiner Terrasse, und schmiedete den Plan, ein kleines Musical über Gran Canaria zu schreiben. Jeden Sonnabend ging er jetzt aus, immer in die „Kleine Philharmonie“, genoss den Plüsch und die Musiktruhe, hatte den Fahrplan des Nachtbusses im Kopf. Im Winter reiste er nach Spanien und durch die Welt, mit seinem Freund vom Strand, 16 Jahre lang und ganz platonisch.

Angst vor dem Alter? Die kannte er nicht mehr. Jo wollte 99 Jahre alt werden, 74 wurden es. Doch den Höhepunkt konnte er in vollen Zügen genießen: Mit 160 Gästen feierte er seinen 70. Geburtstag im „Ballhaus Walzer linksgestrickt“. Es war zugleich die Feier zur Veröffentlichung der eigenen CD, zwölf selbst geschriebene Schlager und Chansons, gemeinsam mit der „Männer-Minne“ professionell und in beträchtlicher Auflage produziert. Strahlend stand er auf der Bühne und sang: „Wie ein Jo-Jo, so ist das Leben.“

Kirsten Wenzel

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