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© dpa-Zentralbild

Jobs & Karriere: Abenteuer Provinz

Es muss nicht immer London, Paris oder Berlin sein. Spannende Jobs und hohe Lebensqualität gibt es auch fern der Ballungszentren

Landluft statt Smog, einsame Kühe auf der Wiese statt Menschenmassen in der Fußgängerzone, mit dem Fahrrad über ruhige Wege zur Arbeit statt mit dem Auto im Feierabendstau. Die Metropolen strapazieren die Nerven, auf dem Land ist vieles einfacher. Nicht nur das Leben.

Das Schweizer Wirtschaftsforschungsinstitut Prognos hat untersucht, wer zu den wettbewerbsstarken Regionen zählen wird. Alle 413 Kreise und kreisfreien Städte in Deutschland wurden auf ihr Potenzial hin in sieben zukunftsträchtigen Wirtschaftszweigen geprüft. Also: Welche Regionen bieten über die Krise hinaus langfristig Perspektiven? Das Ergebnis: Hamburg, Berlin, München und Frankfurt sind stark - keine Frage. Doch Bodensee, Paderborn, Main-Spessart, Heilbronn und Chemnitz sind auch attraktiv, vielleicht sogar spannender als die bekannten Metropolen, wenn es wieder aufwärts geht.

Jede dieser Regionen abseits der großen Ballungszentren hat eigene Stärken, Schönheiten, skurrile Seiten. Chemnitz steht, durch den starken Maschinenbau, 20 Jahre nach dem Mauerfall der nächste Wandel bevor. Der Kreis Heilbronn lockt als Baden-Württemberg in komprimierter Form; auf Platz 25 der Prognos-Gesamtwertung hat er es mit den Schwergewichten Fahrzeug- und Maschinenbau geschafft. Wer hingegen das junge Paderborn bereist – 40 Prozent der Einwohner sind unter 35 –, spürt den Gegensatz zwischen Tradition und Moderne, der die Firmen der Informations- und Kommunikationstechnologien prägt.

Rund um die Wälder des Landkreises Main-Spessart bieten kleine Maschinenbauer lukrative Jobs, auch die Mess-, Steuer- und Regeltechniker sind hier richtig stark. Und am Bodensee kann man viel mehr machen als nur Urlaub. Der Kreis steht beim Maschinenbau auf Platz eins im Prognos-Ranking und in der Gesamtschau auf Rang 20. Die angrenzenden Kreise Ravensburg und Konstanz sind hingegen in der Gesundheitswirtschaft sehr gut aufgestellt. Die gesamte Region wächst, während viele andere Einwohner verlieren.

Die Konkurrenz der Städte ist enorm. Es gibt Bars, Restaurants und Kinos im Überfluss, dazu Einkaufsmeilen in der Innenstadt, das Fitnesscenter mit eigenem Spa in der Nähe und eine Videothek um die Ecke. Diese Vielfalt wirkt wie ein Magnet. Auch auf namhafte, internationale Unternehmen, die sich in prominenter Lage präsentieren wollen. Wer dagegen aufs Land zieht, muss mit Vorurteilen klarkommen: zu provinziell, zu langweilig, zu deutsch. Nur unbekannte Firmen mit biederen Produkten seien dort zuhause, heißt es, und dass es an Internationalität mangele.

Doch gerade in den ländlichen Gegenden Deutschlands sitzen kleine und mittelständische Unternehmen, die in ihren Nischen Markt-, ja sogar Weltmarktführer und zugleich Global Player sind. Viele Familien- oder inhabergeführte Unternehmen sind darunter, die schon mal mehrere Zehntausend Mitarbeiter beschäftigen. Firmen wie der Automobilzulieferer Benteler, der Tunnelbohrbauer Herrenknecht oder Trumpf mit der Inhaberfamilie Leibinger. Sie fühlen sich noch verantwortlich für das, was sie selbst, ihre Eltern oder Großeltern aufgebaut haben, für ihre Mitarbeiter und die Region, in der sie groß geworden sind.

Es sind Firmen, die selbst in der Krise fortführen, was sie seit Jahrzehnten leben. „Wir sind positiv überrascht über die Konstanz der Familienunternehmen im Recruiting, auch über die Krise hinweg“, sagt Stefan Klemm vom Entrepreneurs-Club. Statt nun weniger Fach- und Führungskräfte zu suchen, verstärken sie ihr Recruiting. Sie denken in längeren Zeiträumen und machen sich nicht abhängig von Quartalsergebnissen. Die meisten der befragten Firmen wachsen auch jetzt noch.

Wer die berufliche Herausforderung sucht, findet sie auch fernab der Metropolen. Nichts spricht dagegen, nach zwei Jahren zurück in die Stadt zu ziehen, wenn es nicht funktionieren sollte. Doch wenn man sich einmal darauf einlässt, etwas Neues wagt, spricht vieles dafür, dass man die gewonnenen Vorteile und die Lebensqualität nicht so schnell wieder aufgibt. Zumal man in einer kleinen Stadt leichter Freunde findet. Keiner lebt anonym, jeder ist schnell erreichbar, der Zusammenhalt unter den Mitarbeitern und Nachbarn ist größer. Ohne eigenes Engagement klappt das aber nicht – wer neu ist und dazugehören möchte, muss aktiv werden, auf die Menschen zugehen. Auch eine Portion Beharrlichkeit gehört dazu. Doch es kann sich durchaus lohnen.

ARBEITSPLATZ CHEMNITZ

Karl Marx ist sieben Meter groß, dunkelgrün und guckt sehr ernst. Er steht in Chemnitz, der Stadt, die früher Karl-Marx-Stadt hieß, direkt neben der Straße der Nationen. Nachts strahlen Scheinwerfer ihn an – man könnte denken, es habe sich nicht viel geändert seit der Wende. Aber die Stadt hat eine rasante Entwicklung hinter sich.

Die riesigen Volkseigenen Betriebe (VEB) hat die Treuhand nach der Wende in kleinere Unternehmen aufgeteilt. Viele von ihnen gibt es heute noch, sie bilden die Grundlage für das enorme Wirtschaftswachstum der letzten Jahre. So ist der Umsatz im verarbeitenden Gewerbe zwischen 7,2 und 13,7 Prozent gewachsen. Der Maschinen- und Anlagenbau wuchs 2007 sogar um 15,7 Prozent. 20 Jahre nach der Wende steht die Region jetzt erneut vor massiven Veränderungen: Zahlreiche Zulieferer im Fahrzeugbau haben ihre Mitarbeiter in Kurzarbeit geschickt, um sie so lange wie möglich halten zu können. Der Maschinenbau leidet unter dem massiven Auftragseinbruch, aber auch hier werden die meisten Fachkräfte gehalten. Weil die Unternehmen wissen, wie schwer es wäre, sie nach der Krise zurückzuholen.

Anja Göhler kommt das sehr entgegen, sie will in Chemnitz bleiben. Sie arbeitet beim Maschinenbauer Starrag-Heckert, der aus dem VEB Werkzeugmaschinenkombinat Fritz Heckert hervorgegangen ist. Das Unternehmen hatte in der DDR zeitweise 5000 Mitarbeiter, damals wurden viele Teile noch selbst gefertigt, die heute zugeliefert werden. Göhler ist die einzige Software-Entwicklerin in ihrem Team. Aber sie hatte nie ein Problem mit Männerdomänen, trägt ihre schwarzen Haare kinnlang und ein Tattoo wickelt sich um den Oberarm. Die 30-Jährige entwirft Bedienoberflächen für die großen Präzisionsfräsmaschinen, die anschließend beim Kunden Teile für Autos oder Windräder herstellen: „Ich baue die Brücke zwischen Mensch und Maschine.“ Dass sie aus der Region kommt, hört man an der Art wie sie „jetze“ und „ebend“ sagt. Die studierte Wirtschaftsinformatikerin bewarb sich nach dem Abschluss deutschlandweit, und entschied sich dann für Starrag-Heckert und Chemnitz. Weil die Menschen so herzlich und offen seien und weil man hier so gut und günstig wohnen könne. Das Unternehmen fertigt weltweit, nur wenige Mitarbeiter kommen aus den alten Bundesländern.

Schon jetzt fehlen in 30 Prozent der Industrieunternehmen der Region die Fachkräfte. Die Abwanderungsbewegung, die in zwei Wellen insgesamt 60 000 Einwohner aus der Stadt geschwemmt hat, ist gestoppt. Die Leute kommen zurück oder entdecken die Region überhaupt erst. Das ist so wichtig, weil nach der Wende vor allem die Jüngeren abgewandert sind, die plötzlich arbeitslos waren. Sie haben ihre Kinder woanders bekommen, den Nachwuchs, der jetzt so fehlt. Der Altersdurchschnitt in Chemnitz liegt mit 49,5 Jahren weit über dem Bundesschnitt von knapp 42 Jahren.

Gerade deshalb bieten sich hier Chancen für junge, qualifizierte Kräfte. 50 Prozent der Arbeitnehmer werden bis 2020 in Rente gehen, für jede vierte Stelle wird ein Akademiker gesucht. Mit dem Fachkräfteportal „Chemnitz zieht an“ von 18 mittelständischen Unternehmen und der Wirtschaftsförderung soll ihnen diese Suche erleichtert werden. Weitere Wege in die Moderne geht die Stadt und die Wirtschaftsregion um sie herum mit dem Aufstieg der erneuerbaren Energien. Die Deutsche Solar AG, Tochter der Solarworld aus Bonn, hat ihren Platz in Freiberg gefunden, auf halber Strecke zwischen Chemnitz und Dresden.

Die Deutsche Solar AG sucht vor allem Ingenieure und Naturwissenschaftler. Christian Löbel ist dort Prozessingenieur. „Das große Wachstum des Unternehmens hat mich gereizt", erzählt er. Und die Überschaubarkeit von Freiberg. „Ins Erzgebirge kann man eine Radtour machen, im Winter gehen wir da Ski fahren.“

Für Sachsen spricht also mehr, als man zunächst denkt, vor allem wenn man noch nie dort war. Karl Marx war auch nie in Chemnitz. Heute üben die Skater von seinem Sockel ihre Sprünge. Und zeigen, dass man Vergangenheit und Zukunft auf eigene Weise verbinden kann.

Gekürzter Beitrag aus der Novemberausgabe des Magazins „Junge Karriere“

Stefani Hergert[Carola Sonnet], Michael Detering

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