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Karriere: Neue Ernte

Er war Gemüseverkäufer bei „Marks & Spencer“, und wenn er die Regale auffüllte, dachte er sich neue Melodien aus. Wie Calvin Harris zwischen Tomaten und Avocados zum Popstar wurde.

Vor zwei Jahren sollte Calvin Harris befördert werden: zum Abteilungsleiter Obst und Gemüse. Der Schotte lehnte ab. Heute lässt Heidi Klum jeden Donnerstag Möchtegern-Topmodels zu seinem Hit „Acceptable in the 80s“ aufmarschieren.

Bevor er seinen Durchbruch als Popstar feierte, hatte Harris seinen großen Auftritt an der Obsttheke von „Marks & Spencer“, jenem urbritischen Kaufhaus, in dem einst das ganze Land – angeblich selbst die Königsfamilie – seine Unterwäsche einkaufte; heute pilgern die Briten eher dort hin, um sich mit Mozzarella-Sandwiches und Chicken Marsala, Dijon-Senf und frischen Erdbeeren einzudecken. Die Lebensmittelabteilung ist berühmt für ihre Qualität, die große Auswahl an Fertiggerichten und appetitliche Präsentation.

„Ich war gut“, sagt Harris, ein schlaksiger junger Mann aus der Arbeiterklasse, der wieder im schottischen Dumfries lebt – und meint, dass er schnell die Regale ausräumen und die Auslagen auffüllen konnte. Für 150 Pfund die Woche. Aber dann bot ihm eine Plattenfirma einen Vertrag an. Tagsüber hatte er nämlich Melodien gesummt, in seinem Kopf Sounds zusammengesetzt, während er Salate einräumte, Obstkisten schleppte und manchmal eine Frucht mitgehen ließ. Aus den Melodien entstanden Lieder, die spielte er auf dem Keyboard seines Bruders ein, lud sie nachts auf seine Myspace-Plattform hoch – und erlangte so die Aufmerksamkeit eines Londoner Musikmanagers.

Der 24-Jährige schreibt eingängige elektronische Popmusik, die so klingt, als wäre die Zeit 1987 stehen geblieben. Im Kindesalter probierte er sich noch als Öko-Liedermacher aus, trällerte mit acht Jahren selbst gedichtete Lieder und stellte sich darin zum Beispiel vor, wie wohl das Leben einer Banane aussähe. Dass er in der Food Hall von M&S landete, hat damit allerdings wenig zu tun. Nach der Schule bekam Harris keinen Job im strukturschwachen Dumfries. Also ging er nach London, in der Hoffnung, an der Themse seine Sehnsucht nach Abenteuer und Glamour erfüllen zu können: Ausgehen, Musik machen, coole Menschen treffen. Und dann landete er bei Marks & Spencer.

Es war der erste Job, den er fand. „Ich ging in den Laden, sah die Stellenanzeige und füllte das Bewerbungsformular aus.“ Einige Tage später klingelte morgens um halb fünf sein Wecker, er verließ seine Wohnung im Nordwesten der Stadt, nahm drei verschiedene Nachtbusse und erreichte pünktlich um sechs sein Ziel: eine Filiale von Marks & Spencer in South Clapham. „Zuerst räumten wir die frisch gelieferten Lebensmittel in die Regale ein“, erinnert er sich. „Kisten voller Obst und Gemüse, Salat und Sandwiches.“ Um sieben Uhr öffnete das Kaufhaus. Dann hieß es den ganzen Tag auffüllen, faules Obst aussortieren, darauf achten, dass die Auslagen verlockend aussehen – und alles in einer marineblauen Uniform, mit Krawatte und schwarzen Schuhen.

„Es war keine besonders schöne Arbeit“, meint Harris. Von London sah er nur das, was durch die Fensterscheiben des Busses schimmerte, wenn er nicht vor Erschöpfung einschlief. Die Sehnsucht verpuffte. Und als er ein Jahr später hörte, dass Marks & Spencer in Dumfries einen Mitarbeiter für die Obst-und-Gemüse-Abteilung suchte, bewarb er sich und wurde in seine alte Heimat versetzt.

Als Harris seine Stelle antrat, verstand er sehr viel mehr von Popmusik als von Kulinarik. Bei M&S hatte er vorher nie eingekauft, das konnte er sich nicht leisten. Und: „Ich stand nicht auf ausgefallenes Essen“, sagt er. Von Avocados nahm er an, dass sie wie Birnen schmecken. Als Kind aß er Fleisch mit Erbsen, manchmal Pizza, von Tomaten hielt er nicht viel. Und so, könnte man sagen, sieht er auch aus: dürr, groß, blass. Seine schwarzen Haare trägt er wie ein Möwennest im Sturm, in den engen Jeans hängt er wie ein Schluck Wasser. Aber er hat es geschafft. Sein Album „I Created Disco“ gehört zu den erfolgreichsten britischen Alben des vergangenen Jahres, Ende April erschien es in Deutschland, zwischendurch hat er mit Kylie Minogue Lieder für ihre Platte „X“ aufgenommen. Und wenn sein Koffer am neuen Terminal 5 in Heathrow verloren geht, inklusive des Laptops mit seinen neuen Titeln drauf, macht er in England genauso große Schlagzeilen wie die ungeduldig auf Flughafenangestellte einredende Naomi Campbell.

Für Obst und Gemüse interessierte Harris sich kaum, als er 2005 nach Dumfries zurückkehrte. Sein Grundwissen bezog er aus einem Buch, das er sich als Jugendlicher gekauft hatte: „Früchte, die schaden und Früchte, die heilen.“ Doch in Schottland änderte sich was. Die Filiale war größer – und Calvin Harris entdeckte seinen Wagemut. Er probierte unbekannte Früchte aus, Gemüse, das er noch nie gesehen hatte. Und er entdeckte die Tomate.

„Einmal fuhren wir auf eine Lebensmittel-Messe“, erzählt der Musiker. „Wir, das waren Angestellte von Marks & Spencer aus der ganzen Region, denen Farmer ihre Produkte vorstellten.“ Ein Bauer erklärte, wie man Erdbeeren anbaute, ein anderer stellte auf Bildern die mühselige Ernte von Kartoffeln aus – „da hingen Leute von riesigen Maschinen herab, das sah sehr unmenschlich aus.“ Und ein Farmer bot den jungen Leuten Tomaten an. Ein Kollege lehnte sofort ab, Harris wartete erst mal, bis ein anderer sie probierte. „Als es ihm gut zu gehen schien, nahm ich auch eine.“ Der Geschmack überraschte Harris. Die Früchte schmeckten nicht nach Wasser, sondern angenehm süß. „Umwerfend!“

Die kulinarische Bildung des jungen Calvin ging im Supermarkt weiter. Er wagte sich an eine Avocado heran, nur um festzustellen, dass sie so gar nicht wie eine Birne schmeckte. „Nicht so mein Fall.“ Als nächste Unbekannte kam die Aubergine dran. „Schon besser, aber ich glaube, ich muss noch lernen, wie man sie gut kocht“, sagt er. Der richtige Genuss stellte sich erst mit Gemüse Nummer Drei ein: grünem Spargel. „Fantastisch!“ Er beschloss, ihn mit einem saftigen Steak in Pfeffersauce zuzubereiten. Das Ergebnis fand der Laienkoch phänomenal. Bis heute rangiert das Gericht an der Spitze seiner persönlichen Hitparade.

Hilfe beim Kochen holte der Anfänger sich aus den Kochbüchern von Gordon Ramsey, dem Haudegen der britischen Küche. Die Testobjekte für seine Experimente bezog Harris immer aus derselben Quelle: aus dem Kaufhaus nahm er die vom Tage übrig gebliebenen Lebensmitteln mit. „Es gab eine Anweisung vom Management: frische Lebensmittel nach der Arbeit an Mitarbeiter für die Hälfte zu verkaufen – danach gelangten sie auf den Müll. Aber daran hat sich niemand gehalten.“ Es war völlig normal, dass die Angestellten Fertiggerichte unter ihrer Kleidung oder in ihren Taschen hinausschmuggelten. Tumultartige Szenen spielten sich ab, „wenn sich manche Mitarbeiter nach Feierabend wie die Geier auf die Steaks stürzten, die zurück geblieben waren“, erinnert Calvin Harris sich. Niemand kontrollierte die Mitarbeiter, wenn sie aus dem Geschäft nach Hause gingen.

„Meine Einstellung zum Essen hat sich mit Marks & Spencer verändert“, sagt der Popstar heute: „Mir ist es nicht mehr egal, was ich esse.“ Auch heute noch kauft er bei seinem früheren Arbeitgeber ein, weiß genau, weil er sie alle getestet hat, welches Fertiggericht nicht seinem Geschmack entspricht (um alle Speisen mit Brokkoli macht er einen Bogen) und welches Dessert künstlich, nach zu viel Zucker schmeckt, packt dann frische Tomaten, Salat, Paprika, Frühlingszwiebeln, Bohnen in seinen Korb – und ein Stück Fleisch. „Wenn Gott nicht gewollt hätte, dass wir Tiere essen, hätte er sie nicht aus Fleisch gemacht“, sagt er. Calvin Harris führt ein gesünderes Leben als jemals zuvor – und ein erfülltes. Im Moment arbeitet er an seiner zweiten Platte. Lebensmittel muss er keine mehr mitgehen lassen. Heute geht er mit Kylie Minogue essen.

Calvin Harris’ Album „I Created Disco“ ist bei Ministry of Sound erschienen. Am 8. Mai tritt er im Rahmen des „iTunes-Festivals“ im Radialsystem V, Berlin-Friedrichshain, auf.

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