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Kassel im Aufschwung: Die Kunst der Konjunktur

Kassel hatte lange einen schlechten Ruf: viel Kriminalität, wenig Arbeit, kein Flair. Das ändert sich jetzt. Dank des Bürgermeisters und der Energiewende ist es jetzt die dynamischste Stadt Deutschlands. Wie es dazu kam?

Die Frau im Stadtmuseum ist nicht sehr gesprächig. „Das ist eingelagert“, sagt die Museumsdame kurz. Ein Besucher war durch die Tür getreten, um nach dem Modell von Kassel zu fragen, das den Zustand der Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg festhält. Das Stadtmuseum wird umgebaut. Im Ausweichquartier, einem verlassenen Laden in der Fußgängerzone, sind nur wenige Exponate zu sehen. „Schade“, sagt der Mann. „Ich habe nämlich beim Modellbauen geholfen.“ Keine Reaktion. Also sagt er noch: „Ich hätte es mir einfach gern noch mal angesehen.“ Dann ist er wieder draußen vor der Tür. Ein kalter Wind zieht die Wilhelmsstraße hoch.

Das mit dem Modell kann Rainer Rübel erklären. Das war nämlich so, dass seine Mutter bei dem Architekten beschäftigt war, der Anfang der 60er Jahre den Auftrag zum Bau der Miniaturansicht bekommen hatte. „Ich war noch ein kleiner Junge, ich habe die Bäume aufgeklebt“, sagt Rübel. Das Modell muss man sich so vorstellen: Es sieht aus, als wäre jemand mit riesigen Stiefeln auf den kleinen Gebäuden herumgetrampelt. Es zeigt die zerstörte Stadt im Jahr 1946.

Sein ganzes Leben hat Rübel in Kassel verbracht, 24 Jahre bei Heini Weber gearbeitet. 1949 eröffnete das Elektrofachgeschäft in der Wilhelmsstraße, vor einigen Jahren musste es schließen. Rübel hat Glück gehabt, sagt er, und mit 50 noch einen neuen Job gefunden. Er verkauft jetzt Kaminöfen.

Kürzlich hat er in der Zeitung etwas gelesen, was ihn nicht wenig überrascht hat: Kassel, stand da, ist bei einem bundesweiten Ranking zur dynamischsten Stadt Deutschlands gekürt worden, keine andere hat sich in den vergangenen Jahren so deutlich zum Positiven entwickelt. Rübel kannte nur andere Nachrichten aus seiner Heimat. Ist es nicht auch erst kürzlich gewesen, dass in den Zeitungen über Kassel stand, es sei die Stadt mit der höchsten Kriminalitätsrate in Deutschland?

In der Tat erlebt sie gerade so etwas wie ein zweites Wirtschaftswunder. Um nur eine Zahl zu nennen: Im Frühjahr 2005 lag die Arbeitslosenquote in der Stadt bei 20,6 Prozent. Bis Ende 2011 sank sie auf 9,8 Prozent.

Rübel ist Mitte der 50er Jahre geboren. Das war die Zeit, in der Kassel nach seiner fast völligen Zerstörung im Krieg seine erste Wiedergeburt erlebte. 1953 wurde hier die erste Fußgängerzone Deutschlands eingeweiht, 1955 fand die Bundesgartenschau statt, vor allem aber initiierte der Künstler Arnold Bode die erste Documenta. Sie findet alle fünf Jahre statt, im Juni dieses Jahres wieder, und ist zur weltweit bedeutendsten Ausstellung zeitgenössischer Kunst geworden.

Die Fotos im provisorischen Stadtmuseum dokumentieren dieses erste Wirtschaftswunder Kassels nach dem Krieg. Doch für die Ahnung, wie diese Stadt ganz im Norden Hessens Ende der 50er Jahre ausgesehen haben könnte, muss man nicht ins Museum gehen. Noch heute sind Städtebau und Architektur der 50er allgegenwärtig. Auch die Wilhelmsstraße ist gesäumt von diesen dreigeschossigen schmucklosen Gebäuden. In weiten Teilen der Stadt hat sich über Jahrzehnte so gut wie nichts getan.

Bei SMA Solar sind tausende Arbeitsplätze entstanden.

Ein Stück die Obere Königsstraße hinunter, die mit der Wilhelmsstraße das zentrale Geschäftskreuz bildet, ist es ähnlich. Der Versammlungssaal im Rathaus ist in diesen Tagen 60 Jahre alt geworden. Er sieht noch so aus wie 1952. Er hat an der Stirnseite raumhohe Fenster, die Wände sind mit Nussbaumholz verkleidet. Die Stadtverordneten klagen über schwierige Lichtverhältnisse und schlechte Akustik. Es ist hier wohl so wie an vielen Orten in der Stadt, es wurde so lange mit der Modernisierung gewartet, bis nun der Denkmalschutz dagegensteht.

Auf einem grau gepolsterten, tristen Lehnstuhl hat Bertram Hilgen im Rathaussaal seinen Platz. Der SPD-Politiker ist Oberbürgermeister, 2005 hat er sein Amt angetreten. Und dass jetzt so etwas wie Aufbruchstimmung in Kassel herrscht, hat viel mit diesem Amtsantritt zu tun. Er erkenne Chancen und „weiß sie blitzschnell umzusetzen“, heißt es über Hilgen. „Ich kenne die Vorstände der wichtigsten Unternehmen persönlich“, sagt Hilgen selbst. „Es wird mir nicht passieren, dass ich es aus der Zeitung erfahre, wenn jemand vor hat, den Standort zu wechseln.“ Falls ein Unternehmen sich ansiedeln wolle, dann sei das Chefsache. Dabei wird sein sonst so freundliches Gesicht ernst. Hilgen ist Mitte 50, hat graues Haar und wirkt in seinem Büro, als ob er sich in legerer Kleidung wohler fühlt als im Anzug. Seinen Schreibtisch im Rathaus hat sich Hilgen von einem Schreiner aus Nussbaum anfertigen lassen und selbst finanziert. 120 Kilo wiegt das monumentale Möbelstück.

Bertram Hilgen (SPD) ist seit 2005 Oberbürgermeister in Kassel.
Bertram Hilgen (SPD) ist seit 2005 Oberbürgermeister in Kassel.

© dpa

„50 Jahre lang wurde die Stadt kleinbürgerlich verwaltet“, sagt der Unternehmer Gerhard Jochinger. „Dieser Geist hat sich deutlich verändert.“ Auch Jochinger weiß, wie man umsetzt. Er ist Projektentwickler. Sein rundum verglastes Büro hat er auf dem Dach der Königsgalerie platziert. Von hier oben hat der 64-Jährige eine gute Aussicht auf die Innenstadt. Die Königsgalerie ist eines der Einkaufszentren, die Jochinger in den vergangenen 20 Jahren in Kassel hochgezogen hat. Jochinger ist überzeugt, hätte Hilgen sich nicht so sehr eingesetzt, „dann hätte sich SMA garantiert nicht so schnell entwickelt“. Und SMA, das ist nicht nur das Kürzel für ein Elektro-Unternehmen, sondern auch eines für den Kasseler Aufschwung, die Initialzündung für die Wirtschaft der Stadt.

Der Weg in die Zentrale von SMA Solar Technology ist leicht zu finden und schwer zugleich. Leicht, weil bei keinem anderen Kasseler Unternehmen das enorme Wachstum der vergangenen Jahre so augenfällig ist wie bei dem Weltmarktführer von Wechselrichtern für Solarstromanlagen. Die Wechselrichter sind das Herz jeder Solarstromanlage, sie wandeln Gleichstrom in Wechselstrom um. SMA hat dabei weltweit einen Marktanteil von annähernd 40 Prozent. An der Stadtgrenze von Kassel sind immer neue Gebäude entstanden, die diesen Boom dokumentieren. Schwer ist es da allerdings, das Büro von Günther Cramer zu finden.

Cramer hat SMA Solar Technology 1981 gegründet, viele Jahre geleitet und ist nun Chef des Aufsichtsrats. Seit Ende der 80er Jahre hat sich das Unternehmen erst langsam, dann aber rasant entwickelt. 2011 erlöste SMA 1,7 Milliarden Euro. Zwischen 2005 und 2011 stieg die Zahl der Mitarbeiter von weniger als 1000 auf 6300. Eine Folge des Ausbaus erneuerbarer Energiequellen. Aber für Cramer ist die Kasseler Universität ein zentraler Erfolgsfaktor der Stadt.

Auch die Documenta ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor.

„Das waren wilde Zeiten“, erinnert er sich an seine Studentenzeit in den 70er Jahren und an die Anti-Atomkraftbewegung. „Aus dem Protest heraus kamen neue Gedanken“, sagt er. Und sie fanden ihren Niederschlag in der erst 1971 gegründeten Universität. „Für eine konservative Hochschule wäre es weit schwieriger gewesen, die Erforschung von Windkraft und Sonnenenergie voranzutreiben“, sagt Cramer. „Aber für die damalige Gesamthochschule war es ein wunderbares Gebiet, um sich zu profilieren.“ So sei die Kasseler Uni inzwischen seit mehr als 30 Jahren Pionier auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien.

Jetzt muss SMA seine Wachstumsziele reduzieren. Mit dem Boom ist es erst einmal vorbei, seit die Bundesregierung plant, die Solarförderung zu kürzen. Natürlich hält Cramer die geplante Förderkürzung für falsch, vor allem angesichts eines unfairen Wettbewerbs mit der chinesischen Konkurrenz, die massiv vom Staat gefördert werde. Trotzdem ist das Unternehmen wegen seines hohen Exportanteils von etwa 60 Prozent in einer vergleichsweise guten Position. „Wir sind so erfolgreich, weil wir keine Anlagen oder Module bauen, sondern uns auf die komplexe Systemtechnik konzentriert haben“, sagt Cramer.

Oberbürgermeister Hilgen macht das Ende des Solarbooms nicht bang. „Kassel hat starke industrielle Wurzeln“, sagt er bestimmt. „Und wir wollen eine Industriestadt bleiben. Für uns ist das kein Schmuddelkram.“

Seit 1958 gibt es das Volkswagen- Werk, wo unter anderem drei Millionen Schalt- und Automatikgetriebe jährlich gefertigt werden. Fast 3000 Leute arbeiten bei Daimler in der Achsenproduktion für Lkw. Bombardier baut hier Lokomotiven. Viele Werke sind Überbleibsel der Rüstungs- und Schwerindustrie, die vor dem Krieg in Kassel angesiedelt war. Kraus-Maffei-Wegmann baut heute noch Panzer in Kassel. Und mit K + S hat hier sogar ein Dax-Konzern einen Sitz.

SMA Solar Technology ist Weltmarktführer bei Solar-Wechselrichtern. Sie sind wichtiger Bestandteil jeder Solaranlage.
SMA Solar Technology ist Weltmarktführer bei Solar-Wechselrichtern. Sie sind wichtiger Bestandteil jeder Solaranlage.

© dpa

Dank des starken Wirtschaftswachstums der vergangenen Jahre hat Hilgen nun ein Problem. „Wenn ein Unternehmen in Kassel investieren will, kann ich gar keine Fläche mehr anbieten“, sagt er. Darum soll ein neues Gewerbegebiet entstehen. Viele Bürger wehren sich gegen das Projekt. Dabei braucht Kassel Geld. Es hat 670 Millionen Euro Schulden. „Aber wir kommen von 700 Millionen“, sagt der Oberbürgermeister.

An der Wand in seinem Büro hängt eine Leihgabe aus der Neuen Galerie: ein lebensgroßes Bildnis von Jospeh Beuys. Wer OB in Kassel ist, muss sich für zeitgenössische Kunst interessieren. Kassel ist die Stadt der Documenta. Und Documenta bedeutet, dass für hundert Tage Kunstinteressierte aus der ganzen Welt anreisen. 750 000 kamen zur Documenta 12, die Stadt selbst hat schon lange nicht mal mehr 200 000 Einwohner.

Mit einigen Kunstwerken konnten sich die Kasselaner allerdings nie so recht anfreunden. So führte etwa eine zur Documenta 9 auf dem Königsplatz errichtete Treppe dazu, dass die SPD 1993 ihre seit 1945 währende absolute Mehrheit verlor und für zwölf Jahre ein CDU-Mann die Stadt regierte. Er ließ die Treppe in einer – illegalen – Nacht- und Nebelaktion abreißen. Andere Kunstwerke sind sehr beliebt, wie etwa der „Himmelsstürmer“ vor dem alten Hauptbahnhof, aus dem inzwischen der Kulturbahnhof geworden ist. Und natürlich ist die Documenta auch ein Wirtschaftsfaktor mit einer Wertschöpfung von 150 Millionen Euro.

Der Wohnungsmarkt ist leergefegt.

Nicht weit vom „Himmelsstürmer“ liegt „Panama“. So heißt die Anlaufstelle für Wohnungslose, und hier hat Geschäftsführerin Ulrike Moritz mit der Kehrseite des Booms zu kämpfen: Der Wohnungsmarkt ist leergefegt. Die Mietpreise ziehen an, immer mehr Studenten konkurrieren mit den Arbeitslosen um bezahlbare Wohnungen. „Da findet ein Verdrängungswettbewerb statt, das merken wir deutlich“, sagt Moritz. „Wir haben einen Engpass, der vor fünf bis sechs Jahren nicht vorhersehbar war“, gibt der Oberbürgermeister zu.

Aber jetzt wird gebaut. Zum Beispiel vor dem Bürofenster von Stefan Chun. Dort entstehen in bester Innenstadtlage Stadthäuser. Stefan Chun ist Berliner, aber schon seit 30 Jahren in Kassel. 1991 machte er sich mit seinem Gutachter- und Ingenieurbüro für Windenergieprojekte selbstständig. Inzwischen beschäftigt er 64 Mitarbeiter. „In den letzten eineinhalb Jahren passiert hier viel“, hat er beobachtet. Nicht weit, in der Friedrich-Ebert- Straße, gebe es die ersten Geschäfte, die so aussehen wie die hippen Läden am Prenzlauer Berg, sagt Chun, Läden, in denen es „Kleidsames. Kostbares, aber keine Krawatten“ gibt, wie es dort heißt.

Am Mittag ist in der Fleischerei Barthel am unteren Ende der Wilhelmsstraße gut zu tun. Draußen pfeift immer noch der kalte Wind, drinnen dampfen die heißen Kochwürste, eine Spezialität des Hauses. Wer sie gleich im Laden essen will, bekommt sie auf einem Holzbrettchen serviert. „Mit dieser Seite das Brett in den Schlitz in der Wand stecken“, erklärt die Verkäuferin. So hat jeder Gast seinen eigenen kleinen Stehtisch.

Eine Kundin jedoch vermisst das gewohnte Mobiliar. „Na ja, wissen Sie, nach mehr als 50 Jahren, da musste mal was Neues her“, findet die Verkäuferin.

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