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Wirtschaft: Klaus Ehrler

(Geb. 1930)||Baskenmütze, weißer Bart, der linke Idealtyp. Ein Achtundfünfziger.

Baskenmütze, weißer Bart, der linke Idealtyp. Ein Achtundfünfziger. Das „Anti-Barbarismus-Programm“ noch fertig tippen, unbedingt. „Lotta continua“, schrieb Klaus Ehrler in einem seiner letzten Briefe – „der Kampf geht weiter“. Oder: „Ad multos annos“, obwohl – nein gerade, weil er ahnte, dass ihm selbst nicht mehr viel Zeit blieb. Die Petition der „Militärsteuerverweigerungsgruppe“ konnte noch rechtzeitig an den Bundestagspräsidenten übergeben werden. Am 14. Juni 2005 – leider keiner dieser symbolisch wichtigen Jahrestage. Der 17. Juni wäre besser gewesen. Nicht wegen 1953. Am 17. Juni 1925 wurde das Genfer Protokoll zum Giftgasverbot unterzeichnet. Schon vergessen? Weil dieses Datum nationalhistorisch in die zweite Reihe gerückt war, könnte es fortan als „Weltabrüstungstag“ neuen Sinn erhalten. Die meisten Menschen brauchen eben einen Kalender, um sich an Dinge zu erinnern, die Klaus Ehrler nie vergessen würde.

Er war der Mann mit dem Samariterlächeln, der Baskenmütze, der großen Brille und dem weißen Bart. In den Nachrichtenschnipseln von Anti-Kriegs-Demos war er oft zu sehen, weil sein Äußeres idealtypisch dem Klischee entsprach.

Das „Anti-Barbarismus-Programm“ wollte sein Verlag nicht veröffentlichen. Man könnte vermuten, woran das lag, wenn man liest: „Die Zerschlagung Jugoslawiens in den 90er Jahren kann als nachträglicher Revisionserfolg des deutschen Imperialismus im Sinne der wilhelminischen Kriegsziele von 1914-18 und ihre Weiterverfolgung bis in die Gegenwart interpretiert werden.“ Eine bitterkalte Analyse, die Klaus Ehrlers Enttäuschung über den Lauf der Dinge offenbart. Der disziplinierte Friedensarbeiter gestand sich nicht zu, darüber zu resignieren. Lotta continua!

Um das Dorf Horno vor den Tagebaubaggern zu retten, wollte Klaus Ehrler dort einen Gedenkstein für die jüdischen Soldaten der Roten Armee errichten, die im Kampf gegen Hitlerdeutschland ihr Blut vergossen hatten. Dummerweise konnten ihm die russischen Militärarchive keine geeigneten Personen benennen. Die Religionszugehörigkeit wurde nicht registriert. Lotta continua!

Im vergangenen Sommer entwarf er einen Brief an den neuen Papst. Er fragte an, warum der Vatikan bis heute nicht dem Briand-Kellogg-Pakt zur Ächtung des Angriffskriegs von 1928 beigetreten ist. Hat man den vergessen? Die Parlamentarier des Bundestags erinnerte Klaus Ehrler an das Verbot des Luftkriegs, das 1899 auf der I. Haager Friedenskonferenz verabschiedet, auf der II. Haager Friedenskonferenz 1907 aber nicht verlängert worden war. Wie viel Leid wäre der Menschheit erspart geblieben! Man mag das als weltfremd belächeln, aber Klaus Ehrler war es ernst, wenn es darum ging, den Zynismus der Macht zu entlarven. Lotta continua!

Er war ein Linker, ein radikaler Pazifist, einer, dem man seine Überzeugungen nicht abkaufen konnte. Er driftete nicht allmählich in die gesellschaftliche Mitte, um sich beruflich zu etablieren wie so viele Achtundsechziger. „Ich bin Achtundfünfziger“, sagte er. Mit Rudi Dutschke diskutierte er, aber die Straßenguerilla war nicht seine Sache. Auch nicht das Hinwegfegen der bürgerlichen Sexualmoral. Obwohl er sich ausdrücklich als Feminist bezeichnete. In seinen späteren Jahren stand er oft am Herd, um für seine arbeitende Frau zu kochen. In der Frauenkommission der „Christlichen Friedenskonferenz“ war er der einzige Mann. Seine Kinder erzog er antiautoritär, Handlungsmaxime: Seid lieb zueinander!

Geschrieben hat er eigentlich immer. Artikel für die „Blätter für deutsche und internationale Politik“, für das „Neue Deutschland“, Gedichte für Familien-Geburtstage oder einfach nur so, morgens, als geistiger Frühsport. Gedankenkonstrukte aus Formen und Zahlen. Wortschöpfungsübungen. Alliterationsketten.

Wege wagen / Wagnisse bewegen / Erwägungen / wegen Verwegenheiten / Wogende Wiegen / wagen Verwegenes / von wegen Waghalsigkeiten.

Klaus Ehrler hatte ein enzyklopädisches Gedächtnis, ein Adressbuch brauchte er nicht, historische Daten-Ereignis-Verknüpfungen lagen zu Tausenden verankert in seinem Neuronenspeicher. Den „Faust“ zitierte er seitenweise.

Geschichte hatte er studiert. Davor Physik. Das Studium dauerte zehn Jahre, sein Kernsatz: Besser zehn Jahre studieren als einen Tag kämpfen. Geld verdienen war nicht so wichtig. Acht Quadratmeter bewohnten sie zu zweit.

In der Hitlerzeit war er noch ein Junge, übte sich aber schon im passiven Widerstand. Gemeinsam mit einem Freund trat er zum Wehrsport des Jungvolks mit verbundenem Unterarm an und durfte zugucken. Bei Geländeübungen im Wald verlor das Duo gelegentlich den Kontakt zur Truppe und kehrte vorzeitig ins Privatleben zurück. Dem Fähnleinführer blieb der Eskapismus nicht verborgen. Im Sommer 1942 wurden Klaus und sein Freund vor versammelter Mannschaft entehrt; der Fähnleinführer schnitt die „Siegrune“ von ihren Uniformblusen und verdonnerte die Oberschüler zum Unkrautjäten. Zum Kriegseinsatz kam es nicht mehr. Von seinem Evakuierungsort Nossen aus sah Klaus Dresden brennen.

Nach dem Studium fand er eine Anstellung als Lektor in der „Historischen Kommission“, doch sein politisches Engagement führte zum Zerwürfnis mit seinem Chef. Er übernahm die Leitung der Evangelischen Studentenwohnheime in West-Berlin und konnte 1976 eine Stelle im Büro der „Christlichen Friedenskonferenz“ in Prag antreten. Nach acht Jahren kehrte er seiner Frau zuliebe nach Berlin zurück und war fortan erwerbslos. Mitnichten arbeitslos.

Die Diagnose lautete auf Herzinsuffizienz. Zu groß war sein Herz und deshalb zu schwach. Eine Operation lehnte er ab. Nach Wochen im Krankenhaus ging es ihm besser. Er stand wieder am Herd, saß an der Schreibmaschine, telefonierte. Und starb. Lotta continua!

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