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Das mathematische Symbol einer Wurzel ist für Ökonomen noch besser als ein V.

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Konjunktur stabilisiert sich: Wird aus dem V eine Wurzel?

Mehrere Indikatoren deuten darauf hin, dass sich die Wirtschaft schnell erholt. Doch noch ist fraglich, ob sie das hohe Niveau halten kann.

In der Wirtschaft spielen Buchstaben derzeit eine wichtige Rolle. L, W, U ... sie alle werden als Beschreibung herangezogen, wenn es darum geht, zu prognostizieren, in welcher Form sich die Konjunktur in und nach der Coronakrise entwickelt. Die meisten hoffen allerdings auf ein V. Denn ein Diagramm mit einer V-förmigen Kurve würde schließlich bedeuten, dass sich die Wirtschaft nach dem steilen Absturz im Frühjahr ebenso schnell wieder erholt und das Vorkrisenniveau rasch wieder erreicht.

Blickt man auf aktuelle Konjunkturdaten, wirkt diese Hoffnung durchaus realistisch. „Für viele Branchen ist die wirtschaftliche Entwicklung in Form eines V charakteristisch“, hieß es am Dienstag vom Statistischen Bundesamt zu einer Analyse von Konjunkturdaten, die am Dienstag vorgestellt wurde. Allerdings ist der Buchstabe in den wenigsten Fällen schon vollendet; das Vorkrisenniveau ist bei den meisten Konjunkturdaten noch nicht erreicht.

Autoindustrie und Einzelhandel ziehen wieder an

Ein Beispiel dafür ist der Produktionsindex. Die Industrieproduktion und das produzierende Gewerbe sackten zwischen Februar und April um rund ein Viertel ab. Die Werte konnten sich seitdem zwar wieder steigern, liegen aber noch immer rund elf Prozent unter dem Werten aus dem Februar. In der für Deutschland so wichtigen Automobilindustrie ist die Produktion im Juli um 6,9 Prozent gegenüber Juni gestiegen. Sie lag aber noch 15,7 Prozent unter dem Vorkrisenniveau. „Diese Daten lassen einen freundlichen Ausblick erkennen“, heißt es dazu vom Statistischen Bundesamt.

Ein V machte auch der Einzelhandel mit. Geschäfte mit Textilien, Bekleidung, Schuhen und Lederwaren büßten während des Lockdowns weit über die Hälfte ihres Umsatzes ein, ab Mitte April stiegen die Umsätze aber wieder deutlich an. Das Statistische Bundesamt bezeichnet die Nachholeffekte sogar als außergewöhnlich stark.

Da der Versand- und Internet-Einzelhandel in der Zeit allerdings ein umgekehrtes V – also einen enormen Umsatzanstieg und ein anschließender Rückgang – verzeichnete, bleibt das V für die gesamte Branche flacher. Und insgesamt lagen die Einzelhandelsumsätze im Juli sogar wieder 0,9 Prozent über dem Februar-Niveau.

ZEW-Umfrage ebenfalls positiv

Doch nicht nur der nüchterne Blick auf die bisherige Entwicklung lässt auf eine V-förmige Erholung schließen. Auch das Mannheimer Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) hob seinen Konjunkturindikator überraschend deutlich um 5,9 Punkte auf 77,4 Zähler an.

„Dies zeigt, dass die Expertinnen und Experten weiterhin von einer spürbaren Erholung der deutschen Wirtschaft ausgehen“, kommentierte ZEW-Präsident Achim Wambach die monatliche Umfrage unter 178 Analysten und Anlegern. „Die ins Stocken geratenen Brexit-Verhandlungen und die steigenden Corona-Infektionszahlen konnten die positive Stimmung nicht bremsen.

Die Zahlen der Industrie wecken Hoffnung, doch Stellenstreichungen wie etwa bei MAN sprechen eine andere Sprache.
Die Zahlen der Industrie wecken Hoffnung, doch Stellenstreichungen wie etwa bei MAN sprechen eine andere Sprache.

© imago images/imagebroker

Und sogenannte Frühindikatoren weisen ebenfalls auf eine weitere Erholung hin. So hat der Auftragseingang im Verarbeitenden Gewerbe sich fast ebenso schnell erholt, wie er zuvor eingebrochen war, liegt derzeit aber noch 8,3 Prozent unter dem Februar-Wert. Gleiches gilt für den Lkw-Maut-Fahrleistungsindex, der in engem Zusammenhang mit der Industrieproduktion in Deutschland steht und deshalb ebenfalls als Prognoseinstrument dient. Er stieg im August auf Monatssicht um 1,2 Prozent und liegt noch 3,5 Prozent unter Vorkrisenniveau.

Einige Branchen entwickeln sich ganz anders

Doch es gibt auch die Branchen, die das V noch lange nicht zu ende geschrieben haben. So hat das Gastgewerbe seine Umsätze nach dem Lockdown zwar auch deutlich steigern können, zwischen Juli und August sogar um fast 22 Prozent. Doch vor der Pandemie hatten die Umsätze um fast 30 Prozent höher gelegen.

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Ähnlich sieht es beim Tourismus aus. Im Juli dieses Jahres wurden rund 23 Prozent weniger Übernachtungen gebucht als vor Jahresfrist. Vor allem die Touristen aus dem Ausland fehlen, heißt es vom Statistischen Bundesamt. Und bei den Fluggastzahlen ist von einem V noch gar nichts zu erkennen. Stattdessen droht hier das L-Szenario: Nach dem Lockdown ist hier nur eine sehr schwache Steigerung zu erkennen.

Und noch eine Branche dürfte mit dem V nichts anzufangen wissen – sie dürfte sich daran allerdings auch nicht stören. Denn am Baugewerbe ist die Krise fast spurlos vorbei gegangen. Die Zahl der Baugenehmigungen stieg während des Lockdowns sogar an und liegt deutlich über dem Vorkrisenniveau.

Altmaier rechnet mit 5,8 Prozent Minus

Insgesamt decken sich die Daten mit dem Bild, das auch die Bundesregierung zeichnet. Auch Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) sprach bei der Vorstellung seiner jüngsten Konjunkturprognose von einer V-förmigen Entwicklung. „Die Talsohle ist durchschritten“, teilte er mit und rechnet nun insgesamt mit einem Minus des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 5,8 Prozent im laufenden Jahr. 2021 soll es dann wieder um 4,4 Prozent aufwärts gehen. 2022 soll die Wirtschaft nach Altmaiers Einschätzung dann wieder so gut laufen wie vor der Corona-Pandemie.

Die große Frage lautet derzeit allerdings, ob die Wirtschaft das derzeit wieder erlangte, hohe Niveau halten kann. Ob aus dem V also ein Wurzel-Symbol werden kann, dessen Strich bekanntlich unendlich lang auf dem selben, sogar noch höherem Niveau bleibt. „Eine zweite Corona-Welle könnte die derzeitige Erholung gefährden“, teilt das Statistische Bundesamt dazu nüchtern mit.

Peter Altmaier (CDU), Bundesminister für Wirtschaft und Energie, hofft auf einen kräftigen Aufschwung.
Peter Altmaier (CDU), Bundesminister für Wirtschaft und Energie, hofft auf einen kräftigen Aufschwung.

© Sven Hoppe/dpa

Gerade für den Tourismussektor und exportorientierte Branchen dürfte aber auch das Infektionsgeschehen im Ausland und dortige etwaige neue Lockdowns von Bedeutung sein. Vor diesem Hintergrund wird die Lage in Frankreich und Spanien in dieser Branche derzeit mit Sorge betrachtet.

Doch nicht nur eine zweite Welle könnte den Aufschwung gefährden. Auch eine Pleitewelle im Herbst würde das Wirtschaftssystem vor erhebliche Probleme stellen. Da die Insolvenzantragspflicht derzeit ausgesetzt ist, rechnen viele Beobachter mit einer Vielzahl insolventer Firmen, sobald diese Regelung ausläuft. Weil damit Kreditausfälle einher gehen könnten, wäre das gesamte Bankensystem davon erheblich betroffen.

Banken sehen kein Risiko einer Pleitewelle

Dort sieht man sich allerdings gut gewappnet. Dass viele Unternehmen in der mittelständisch geprägten deutschen Wirtschaft bislang vergleichsweise gut durch die Krise gekommen sind, hat nach Einschätzung des Deutschen Sparkassen- und Giroverbands (DSGV) nämlich mit der Vorsorge aus den Boomjahren nach der Finanzkrise 2008/2009 zu tun. „Viele Unternehmen haben in den vergangenen guten Jahren vorbildlich gewirtschaftet, Gewinne wurden überwiegend im Unternehmen gelassen“, bilanzierte DSGV-Präsident Helmut Schleweis. Dies komme den Betrieben nun zugute.

Mit einer Eigenkapitalquote von 39 Prozent sei der Mittelstand ausreichend kapitalisiert, um Verlusten begegnen zu können. „Die hohe finanzielle Stabilität ermöglicht vielen Unternehmen, temporäre Verluste aus eigener Kraft über ihr Eigenkapital zu kompensieren“, befand Schleweis. Daher rechne er derzeit auch nicht mit einer großen Welle an Unternehmensinsolvenzen.

China macht Hoffnung

Hoffnung auf einen weiteren Aufschwung machen zudem jüngste Daten aus dem wichtigen Absatzmarkt China: In der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt setzte sich im August der Aufwärtstrend fort, Industrieproduktion und Einzelhandelsumsätze entwickelten sich besser als erwartet.

Die Produktion in der Industrie stieg nach Angaben des Statistikamtes in Peking im August zum Vorjahr um 5,6 Prozent. Der Einzelhandelsumsatz legte in dem Monat zum Vorjahr um 0,5 Prozent zu – und damit zum ersten Mal seit dem Einbruch in der Corona-Pandemie.

Diese Zahlen sind gerade auch für deutsche Firmen wie Volkswagen, die in China mehr Autos verkaufen als irgendwo sonst, eine wichtige Nachricht. So könnte nicht nur Deutschland, sondern die gesamte Weltwirtschaft bald statt von einem V von einer Wurzel sprechen.

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