zum Hauptinhalt
-

© AFP

Konjunkturprognosen: Verlässlich wie Kaffeesatz

Ins Leben vorausschauen – ein Menschheitstraum. Den träumt auch die Wirtschaft und erstellt Konjunkturprognosen. Mit mäßigem Erfolg, das zeigt die Geschichte. Trotzdem steht jetzt wieder das Jahresgutachen an.

Es war ein Bilderbuch-Sommer. Wochenlang fiel kein Regen, bis weit in den September hinein waren die Tage heiß. Ebenso wenig wie das Wetter bot die Wirtschaft Anlass zum Verdruss. Die Unternehmen produzierten auf Hochtouren, die Leute kauften Kühlschränke, Radios, Fotoapparate und Autos, die Aktienkurse an den Börsen stiegen beinahe unaufhörlich. Für schlechte Stimmung war kein Platz. Irving Fisher, ein in den USA bekannter Wirtschaftsprofessor, jubelte voller Euphorie, dass „es so aussieht, als ob die Aktien ein dauerhaftes Hochplateau erreicht haben“. Das war Mitte Oktober.

Der Mann täuschte sich. Schon wenige Tage später, am 24. Oktober 1929, ereignete sich in den USA der folgenschwerste Börsencrash der Geschichte. Als die Kurse ins Bodenlose stürzten, verloren Hunderte Händler, Tausende Anleger und Millionen Arbeiter rund um den Globus ihr Geld, ihren Job und manche auch ihr Leben. Die Welt stürzte in die Große Depression, von deren Schrecken sich Amerika und Europa erst Jahre später erholten. Niemand hatte das Desaster und die anschließende Krise kommen sehen, kein Politiker, kein Hellseher, kein Börsenguru — und erst recht kein Wirtschaftsexperte. Sie hatten sogar das genaue Gegenteil angenommen. „Manches spricht dafür, dass sich die Konjunkturbewegung in den nächsten Jahren ruhiger gestalten könnte“, gab der Vorläufer des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin nur ein gutes Jahr vor dem Schwarzen Freitag bekannt.

Doch schon damals mochte den Prognostikern niemand so recht glauben. Wirtschaftsvorhersagen seien „aus sachlichen Gründen grundsätzlich unmöglich“, polterte 1928 Oskar Morgenstern, ein wichtiger deutscher Ökonom. Die Mittel der Wissenschaft, befand er, reichten dafür schlicht nicht aus.

80 Jahre später steckt die Welt wieder in einer Finanz- und Börsenkrise – und die Skepsis gegenüber Prognosen und deren Verfassern ist eher noch gewachsen. Dass die wüsten Spekulationen mit amerikanischen Immobilien die Finanzwelt an den Rand des Abgrunds bringen würden, dass Dutzende Banken mit Milliardensummen vor dem Aus gerettet werden müssten, dass einige Staaten gar an den Rand des Bankrotts und in eine schlimme Rezession schlittern würden – wieder haben die meisten Wirtschaftsforscher diese Dramatik bestenfalls erahnt, nicht aber laut davor gewarnt. Und wieder steht die Frage im Raum: Wozu eigentlich Konjunkturprognosen?

Kommende Woche dürfen sich die Experten erklären. Am Mittwoch wollen die Wirtschafts-Sachverständigen, die so genannten Fünf Weisen, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ihr neues Jahresgutachten überreichen. Über Wochen haben die Forscher und ihre Assistenten an dem Hunderte Seiten dicken Werk gearbeitet, zuletzt Tag und Nacht.

Wortreiche Rechtfertigungen

Doch die Chancen stehen schlecht, dass den Professoren dieses Mal eine präzise Prognose gelungen ist. In den vergangenen Jahren vermochten sie es fast nie, die Entwicklung genau vorherzusagen. Was sie aber stets wortreich zu rechtfertigen wussten: Mal war es der Ölpreis, mal das Platzen der Börsenblase, mal die unterschätzte Auslandsnachfrage. Irgendwer, so scheint es, ist immer Schuld – nur nicht die Fachleute selbst. „Diese Wissenschaft erinnert mich sehr an Meteorologie“, ätzte Merkels Vorgänger Gerhard Schröder. „Professorengeschwätz“ nannte SPD-Fraktionsvize Ludwig Stiegler die Empfehlungen der Experten.

Vor allem wenn sich die Zeiten ändern, wenn aus einem Aufschwung eine Krise wird oder Kriege und Anschläge die Welt erschüttern, liegen die Ökonomen oft daneben. So etwa Ende 2001, als die Sachverständigen die Wirtschaft schon wieder auf Wachstumskurs sahen – und stattdessen eine zähe Stagnation über das Land kam. Ebenso unterschätzten sie Ende 2005 die Kraft des beginnenden Aufschwungs. Ihre Kollegen in den anderen Instituten machten es kaum besser. Dabei stehen beim Wachstum hinter einem Prozentpunkt mehr oder weniger gewaltige Werte: Beim deutschen Bruttoinlandsprodukt von 2500 Milliarden Euro sind dies immerhin 25 Milliarden. Und jeder Prozentpunkt weniger Wachstum kostet Bund, Länder und Kommunen fünf Milliarden Euro Steuereinnahmen.

Noch krasser klafften Prognose und Realität nach der deutschen Wiedervereinigung auseinander. Der Kieler Professor Horst Siebert, lange Jahre ein Mitglied der Weisen, sagte der Ex-DDR-Wirtschaft Zuwachsraten zwischen 10 und 25 Prozent im ersten Jahr und zwischen 10 und 20 Prozent im zweiten Jahr voraus. Tatsächlich schrumpfte der einstige Arbeiter- und Bauernstaat im ersten Jahr um 15,6 und im zweiten um 19,2 Prozent.

Großer Einfluss trotz aller Irrtümer

Ihre vielen Irrtümer haben die Ökonomen keinesfalls Einfluss gekostet. Im Gegenteil: Erst vergangenen Mittwoch verabschiedete die schwarz-rote Koalition ein milliardenschweres Konjunkturpaket – weil zuvor viele Wissenschaftler vor einer drohenden Rezession gewarnt hatten. Dass sie wieder einmal falsch liegen, ist nicht unwahrscheinlich – dann hätte der Staat sein Geld behalten können.

Der Wunsch, in die Zukunft zu blicken, ist uralt. Das Bestreben der Menschen, Ereignisse voraussehen zu können, entspringt nicht nur der Sehnsucht, ihr Leben selbst in der Hand zu haben und den vermeintlichen Willen der Götter oder des Schicksals zu überwinden. Eine verlässliche Vorausschau bedeutet seit jeher auch Macht und Geld. So war bei den Mesopotamiern 3000 Jahre vor Christi Geburt der Blick auf die Leber eines frisch geschlachteten Schafes ein gängiges Ritual, um den Erfolg von Kriegen abzuschätzen.

In der Antike genossen Seher, die vorgaben, mehr zu wissen als andere, hohes Ansehen. Bei den Griechen galt das sagenumwobene Orakel von Delphi sogar als Mittelpunkt der Welt. Die Priesterin Pythia begab sich der Überlieferung zufolge dabei über eine Erdspalte, aus der berauschende Dämpfe hervortraten. Derart in Trance versetzt soll Pythia zuverlässig in die Zukunft geblickt haben. Andere Kulturen entwickelten primitivere Verfahren – sie interpretierten den Flug der Vögel, den Stand der Sterne, legten die Karten, warfen Knochen, versuchten aus der Hand und sogar aus dem abgestandenen Kaffeesatz zu lesen.

Selbst in biblischen Geschichten ist Konjunkturforschung ein Thema. Das Alte Testament berichtet davon, dass Josef einen Traum des ägyptischen Pharaos dahingehend gedeutet habe, dass auf sieben gute Jahre sieben schlechte folgen würden. Es gelang Josef, den Monarchen von seiner Konjunkturprognose zu überzeugen – mit dessen Billigung baute er Getreidesilos, um die Ernte aus den mageren Jahren für die darauf folgenden fetten Jahre aufbewahren zu können.

Sonnenflecken unter Verdacht

Mit Traumdeutung will die moderne Ökonomie zwar nichts zu tun haben. Aber noch im 19. Jahrhundert hatte der Brite William Stanley Jevons, ein damals angesehener Forscher, die Sonnenflecken im Verdacht, für das Auf und Ab der Wirtschaft verantwortlich zu sein. Sie hätten Einfluss auf die Ernten der Bauern, nahm er an – und damit auf das ganze Wirtschaftssystem. Zu einigermaßen seriösen Prophezeiungen kamen die Prognostiker erst nach 1945.

Allein in Deutschland versuchen an die 50 Institutionen, den Lauf der Wirtschaft vorherzusagen: Banken, Versicherungen, Forschungsinstitute, Gewerkschaften, Unternehmensverbände, Wirtschaftsorganisationen wie der Internationale Währungsfonds (IWF), die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und obendrein der Staat selbst, etwa das Bundeswirtschaftsministerium und die EU-Kommission. Zum Teil mehrmals im Jahr senken sie ihre Prognosen oder heben sie an, was in den Medien für eine Flut von Daten sorgt. Die größte Aufmerksamkeit kommt dabei den Frühjahrs- und den Herbstgutachten der großen Institute zu sowie dem Jahresgutachten des Sachverständigenrats.

Die Arbeit der Professoren ist nicht billig: Gut zehn Millionen Euro lässt sich der Staat ihre Expertise kosten. Die Privatwirtschaft arbeitet auf eigene Rechnung. Einen Unterschied macht das nicht: Die vom Fiskus bezahlten Forscher arbeiten nicht besser als die privaten Firmen. Mehreren Studien zufolge liegen beide um einen halben bis einen Prozentpunkt neben der Realität. Von Fortschritt kann also keine Rede sein: „In den vergangenen 40 Jahren haben sich die Prognosen trotz aller neuen Methoden praktisch nicht verbessert – weder in Deutschland noch im Ausland“, sagt Ullrich Heilemann, ein Leipziger Professor und Experte für die Qualität von Konjunkturforschung.

Jeder will die Prognosen

So umstritten die Prognosen sind, verzichten möchte niemand auf sie. Der Finanzminister braucht sie, um die Steuereinnahmen abschätzen zu können. Unternehmen müssen planen, ob sie in den kommenden Monaten ihre Produkte absetzen können, neue Fabriken bauen oder eher den Rotstift ansetzen. Arbeitnehmer wollen wissen, ob ihr Job sicher ist oder sie sich nach einem neuen umsehen müssen. „Niemand kommt ohne Prognosen aus, so umstritten sie sind“, sagt Heilemann.

Die Bücher und Aufsätze über Konjunkturforschung füllen mittlerweile ganze Bibliotheken. Das Prinzip, mit dem die Forscher einen Blick in das nächste Jahr zu werfen versuchen, ist stets ähnlich: Sie benutzen seitenlange Formeln und Gleichungen mit Hunderten von Variablen, lesen und interpretieren Umfragen über die Stimmung von Verbrauchern und Firmen und füttern Computer mit zahllosen Daten – über den Warenexport, neue Aufträge, die Höhe der Zinsen, die Zahl unbesetzter Stellen, die Preise für Kupfer, Erdgas oder Milch, die Lagerhaltung der Unternehmen, die Investitionen in neue Maschinen, die Lohnabschlüsse der Tarifparteien, die Kauflust der Konsumenten oder die Gesetzespläne des Staates.

Das Problem: Alles hängt mit allem zusammen. So wissen die Forscher heute beispielsweise, dass ein Anstieg des Ölpreises um ein Zehntel das Wachstum in den Industrieländern um gut 0,2 Prozentpunkte dämpft. Schwankt zugleich der Wechselkurs von Euro und Dollar, fällt das Minus womöglich größer aus. Oder kleiner, wenn die Autofahrer angesichts des hohen Spritpreises lieber auf Bus und Bahn umsteigen. Letzten Endes vereinfacht jedes theoretische Modell die komplexe Wirklichkeit nur. Und versucht, von der Vergangenheit auf die Zukunft zu schließen. „Wüssten die Konjunkturforscher mit vollständiger Sicherheit, wie sich Menschen in Zukunft verhalten und wie alles mit allem zusammenhängt, wären gute Prognosen nur eine Frage von leistungsfähigen Rechenmaschinen“, sagt Thomas Straubhaar, Präsident des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Instituts (HWWI). Trotzdem wagen sich einige Experten sogar an Zwei-Jahres-Prognosen. „Das ist pure Kaffeesatzleserei“, kritisiert der Leipziger Professor Heilemann.

"Wir sind eben keine Wahrsager"

Damit die Ökonomen überhaupt mit der Rechnerei beginnen können, müssen sie Annahmen treffen. Schon dabei können sie grob falsch liegen. Etwa, wenn ein Statistikamt sich verrechnet hat und wichtige Daten nachträglich korrigiert. Oder beim Ölpreis: Im Juli kostete ein Fass 150 Dollar, heute nicht einmal die Hälfte. Für die Prognose macht es einen großen Unterschied, ob der Preis in den nächsten Wochen auf 30 Dollar fällt, oder ob die Scheichs die Förderung drosseln, um den Preis über 100 Dollar zu treiben. Hier stößt die Wissenschaft an Grenzen. „Wir sind eben keine Wahrsager“, verteidigt sich Jürgen Kromphardt, Ökonom aus Berlin und lange Mitglied im Sachverständigenrat. „Wirklich gute Prognosen kann nur machen, wer das nötige Bauchgefühl hat“, gibt ein anderer Wissenschaftler zu.

Hinzu kommt, dass die Vorhersagen von Menschen gemacht werden und schon deshalb voller Schwächen stecken. Prognostiker folgen meist dem Herdentrieb, keiner will exotische Szenarien predigen und ohne Not vor Krisen warnen. „Die Ökonomen machen gerne auf Schönwetter – niemand spielt gerne den Hiob“, befindet Heilemann. Ohnehin haben die Ökonomen den Faktor Psychologie noch nicht genügend auf der Rechnung. Das Wetter schert sich nicht darum, wie es vorhergesagt wird. Anders bei der Wirtschaft: Warnen die Forscher nur oft genug , dass die Zukunft schwarz ist, glauben die Menschen irgendwann daran, werden pessimistisch, halten das Geld zusammen – und die Prophezeiung erfüllt sich selbst.

Der Traum, die Konjunktur beherrschen zu können, ging nicht auf

Eine Zeitlang, in den 1960er Jahren, glaubten die Forscher sogar, die Formel für das Gefüge der Wirtschaftswelt gefunden zu haben. Schuld war John Maynard Keynes, der wichtigste Ökonom des 20. Jahrhunderts. Seiner Vorstellung nach schafft es die Wirtschaft mitunter nicht, sich aus Krisen zu befreien, dann muss der Staat mit Geldspritzen einspringen, um die Konjunktur wieder in Gang zu bringen. Hinter dieser Theorie steckt eine für Politiker äußerst verlockende Möglichkeit: Wüsste der Staat nur früh genug, dass eine Krise kommt, er könnte sie mit antizyklisch wirkenden Ausgaben vermeiden. Mit der „Globalsteuerung“ unternahm die Politik unter dem legendären Wirtschafts- und Finanzminister Karl Schiller (SPD) einen Versuch im Großformat.

Doch der Traum, die Konjunktur beherrschen zu können, ging nicht auf. Auch, weil die Prognostiker zugeben mussten, Krisen nicht rechtzeitig genug melden zu können, um sie auszuschalten. Das hat für Ernüchterung gesorgt. „Die ungeheure Komplexität und die evolutorische Dynamik der wirtschaftlichen Wirklichkeit lässt sich bestenfalls in Umrissen abbilden“, urteilt HWWI-Mann Straubhaar. Mit anderen Worten: Die Ökonomie ist nicht exakt wie Physik oder Chemie – und kann deshalb die Welt nicht erklären.

Die meisten Professoren haben denn auch keine Scham, dies einzugestehen. Zugleich hadern sie mit der Forderung der Politik nach präzisen Prognosen. „Die Erwartungen sind überzogen, das kann kein Mensch erfüllen“, sagt der Ex-Wirtschaftsweise Kromphardt. Die Forscher sollten offen über mögliche Fehler sprechen. „Vielleicht wäre es gut, statt exakter Zahlen eine gewisse Schwankungsbreite vorzugeben“, schlägt er vor. Zudem raten sie, die Grenzen des Fachs im Blick zu behalten. „Wir haben es im Wirtschaftsleben nicht mit Robotern zu tun, sondern mit Menschen, die ständig neu entscheiden“, sagt Albrecht Ritschl, Wirtschaftshistoriker an der London School of Economics. „Wer eine Prognose liest, sollte stets daran denken, dass das Verhalten der Menschen unberechenbar ist.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false