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Lebensmittel im Müll: Niemand will schuld sein

Die Bauern sagen, auf dem Feld verkommt nichts. Dass dennoch so viele Lebensmittel im Müll landen, liege am Handel.

An der Verschwendung von Lebensmitteln haben nach Meinung der Politik nicht nur die Verbraucher, sondern auch die Bauern und der Handel einen großen Anteil. „Nur 60 Prozent der Kartoffeln landen im Laden“, sagte der agrarpolitische Sprecher der Grünen im Europaparlament, Martin Häusling, dem Tagesspiegel. „Der Rest bleibt auf dem Acker oder verschwindet in der Biogasanlage.“ Dabei sei der Großteil der Ware völlig in Ordnung. „Oft ist das nur eine Frage der Optik.“ Auch Landwirtschaftsministerin Ilse Aigner (CSU) will den Bauern stärker auf die Finger schauen. „Wir untersuchen die ganze Verwertungskette“, sagte ihr Sprecher Holger Eichele. Auf ein bis zwei Millionen Tonnen schätzt er den Abfall, den die Landwirtschaft pro Jahr produziert. Genaueres soll eine Studie zeigen, die derzeit erstellt wird und bald veröffentlicht werden soll.

Bisher ist nur bekannt, wie viel Lebensmittelmüll Industrie, Handel, Großverbraucher und private Haushalte produzieren. Knapp elf Millionen Tonnen sind das im Jahr, oder 81 Kilogramm je Bürger. Das ergab eine Studie der Universität Stuttgart für das Agrarministerium. Mitte März hatte Aigner die Zahlen präsentiert, für diesen Dienstag hat sie Vertreter aus Industrie, Handel, Gastronomie und Landwirtschaft sowie Verbraucherschützer, Vertreter von Kirchen und Nichtregierungsorganisationen eingeladen, um über Strategien gegen die Verschwendung von Lebensmitteln zu beraten.

Doch die Bauern wissen nicht so recht, was sie in der Runde sollen. Nahezu alles, was angebaut werde, komme auch in den Laden, betonen sie, Obst und Gemüse würden kaum aussortiert. „Die Quote liegt bei unter fünf Prozent“, sagte Helmut Born, Generalsekretär des Deutschen Bauernverbands, dem Tagesspiegel. „Ware der Handelsklasse eins geht an den Einzelhandel, Obst und Gemüse der Handelsklasse zwei wird meist auf den Wochenmärkten verkauft.“ Auch der Rest werde sinnvoll verwendet. Fallobst werde zu Saft verarbeitet. Obst und Gemüse, das weder an den Handel noch an die Ernährungsindustrie verkauft werden kann, würden an die Tiere verfüttert oder zu Biogas vergoren. Das, was auf den Feldern zurückbleibt, diene als Dünger und als wertvoller Humusbilder. „Auf dem Hof verkommt gar nichts“, sagte Born. Das sieht Aigner anders. „Wenn Lebensmittel in die Biogasanlage wandern, ist das auch eine Form des Verlusts“, kritisiert ihr Sprecher Eichele.

Ein Grundübel hat die Ministerin bereits identifiziert: die Vermarktungsnormen der EU für Obst und Gemüse. 36 gab es einst, 26 sind bereits abgeschafft. Regelungen existieren noch für Äpfel, Zitrusfrüchte, Kiwis, Salate, Pfirsiche/Nektarinen, Birnen, Erdbeeren, Paprika, Trauben und Tomaten. Sie schreiben vor, wie die Ware beschaffen sein muss, wie sie auszusehen hat, welche Klassen es gibt. Ein Produkt, das die Anforderungen nicht schafft, kommt nicht in den Handel. „Normen dürfen kein Vorwand sein, Agrarprodukte unterzupflügen oder wegzuwerfen“, meint Aigner und fordert die Abschaffung der noch übrigen zehn Vermarktungsnormen. Wie die Grünen: Die Normen seien eine „Bevormundung des Verbrauchers“, kritisiert Agrar-Experte Martin Häusling.

Die Bauern wollen an den Normen festhalten. „Die Normen geben den Erzeugern, dem Handel und den Verbrauchern Sicherheit“, argumentiert Born. Verbraucher und Handel könnten sich darauf verlassen, dass sie eine bestimmte Qualität geliefert bekommen und, was für die Bauern wichtig ist: „Die Erzeuger können sich auf ein bestimmtes Preisniveau verlassen.“

Die Abschaffung der Verwertungsnormen werde keine großen Veränderungen nach sich ziehen, warnt der Handel. Für Gurken etwa ist die Norm schon vor einiger Zeit abgeschafft worden, dennoch sieht man kaum krumme Salatgurken im Gemüseregal. Weil die Verbraucher sie nicht kaufen würden? „Nein“, sagt Christian Böttcher vom Bundesverbands des Lebensmittelhandels. „Die Züchter haben dafür gesorgt, dass es keine krummen Gurken mehr gibt.“

Schuld an der Lebensmittelkrise sind nach Meinung der Bauern nicht die Normen, sondern der Handel. Lebensmittel seien zu billig, kritisiert Generalsekretär Born. „Wenn Lidl aktuell den Preis von Schweinesteaks der besten Qualität zu Beginn der Grillsaison um 25 Prozent senkt, muss man sich nicht wundern, wenn Verbraucher Lebensmittel nicht mehr wertschätzen“, kritisiert er. „Dann nimmt man eben mal eine Sechser-Packung und wirft notfalls ein Drittel weg.“

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