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Leipzig: Ein Leben ohne Quelle

Im Leipziger Versandzentrum schlug knapp 15 Jahre das Herz des Konzerns. Nun warten 800 Mitarbeiter auf das endgültige Aus.

Die Zukunft schimmert gelb und grün. Für Silvia Schmelzer ist sie mit Händen zu greifen und doch unerreichbar. Wie jeder Artikel in der stickigen Packerei im Quelle-Versandzentrum in Leipzig geht an diesem Dezembertag auch eine Tüte mit bunten Ostereiern aus Kunststoff durch die flinken Finger von Schmelzer und ihren Kollegen. Das lässt Schlimmes ahnen. Wenn die Eier an Ostern ausgepackt werden, gibt es Quelle schon lange nicht mehr – bereits kurz nach Weihnachten ist wohl alles vorbei. Für Silvia Schmelzer, eine zierliche Frau mit rötlichen Haaren, ist das eine beängstigende Vorstellung. „Quelle ist mein Leben“, sagt die 47-Jährige, „ich weiß gar nicht, was ich zu Hause machen soll.“ Seit 14 Jahren verpackt die gebürtige Sächsin Waren von Quelle, nun rechnet sie jeden Tag mit ihrer Freistellung.

92 Jahre lang war Quelle ein angesehenes Versandhaus, ein Imperium. Im November besiegelten die Gläubiger das endgültige Aus, viele Mitarbeiter haben längst ihre Arbeit verloren. Besonders hart trifft es den ehemaligen Agrarflughafen in Leipzig-Mockau. Seit 1995 schlug dort das Herz von Quelle. Auf einer Fläche von 145 Fußballfeldern verpackten und verschickten früher 3000 Mitarbeiter bis zu 180 000 Kundenpakete pro Tag – rund 90 Prozent der bunten Katalogwelt. Inzwischen ist sogar der Ausverkauf über das Internet eingestellt. Knapp 800 Beschäftigte wickeln derzeit die letzten Bestellungen ab. Wie lange der Betrieb noch läuft, wissen sie nicht. Sie hoffen, bis Ende des Monats.

Inis Räuscher wird Quelle als eine der Letzten verlassen. Nach 13 Jahren in der Besucherbetreuung wechselte die 47-Jährige vor kurzem in die Personalabteilung. Dort gibt es jetzt mehr zu tun, allein wegen der vielen Zeugnisse für die entlassenen Kollegen. Nebenbei dreht Räuscher ihre letzten Besucherrunden. Wie tausende Male zuvor beginnt sie in einem kleinen Konferenzraum. Neu ist, dass sie eine rote Lederjacke trägt – das Zimmer wird bereits nicht mehr beheizt.

Auch sonst hat sich manches geändert. Früher leuchtete in der Adventszeit an jedem der drei Eingangstore ein feierlich geschmückter Weihnachtsbaum, heute fehlt das Geld und die Festtagsstimmung. Auch draußen vor den kastenförmigen grauen Hallen ist es still geworden. Leere, riesige Asphaltflächen, so weit das Auge reicht. Bis vor kurzem brachten täglich 55 Lkws die neuen Waren, heute sind die Rollläden an den Annahmestellen heruntergelassen. Das Versandzentrum von Quelle funktioniert nur noch in eine Richtung: Raus geht es noch, rein nicht mehr.

Noch knapp zehn Millionen Artikel befinden sich auf dem Gelände, die meisten liegen in den Gittern des Hochregallagers. „Nur die Maschinen kennen sich hier aus“, heißt es in einem Werbefilm. Gemeint sind die mechanischen Greifarme, die auf vier Stockwerken automatisch nach den bestellten Kartons suchen. In einigen Tagen wird man die übrig gebliebenen Waren an Schnäppchenjäger verhökern und die Hallen abreißen. „Das Gelände ist für Quelle angelegt und gebaut worden“, sagt Besucherbetreuerin Räuscher, „das lässt sich nicht eins zu eins übernehmen.“ Leipzigs Wirtschaftsbürgermeister bestätigt das. Bisher gebe es keinen Nachnutzer. Quelle würde selbst ein Verkauf nichts einbringen. Bereits vor Jahren veräußerte der ehemalige Konzernchef Thomas Middelhoff das Gelände an eine Immobiliengesellschaft.

Was heute so traurig endet, startete einst mit viel Aufbruchstimmung und öffentlicher Hilfe. Kurz nach der Wende kommt Quelle als einer der ersten Westkonzerne nach Sachsen, von Leipzig aus sollen die Märkte in Osteuropa erobert werden. In Rekordzeit winken die Behörden den Bauantrag durch, bereits 1991 wird der Grundstein gelegt. Eine Milliarde Mark steckte Quelle damals in sein neues Versandhaus, rund ein Drittel, so heißt es, stammte aus Fördermitteln.

Für viele Leipziger ging damals ein Traum in Erfüllung, ein Arbeitsplatz bei Quelle. Auch für Inis Räuscher. Zu DDR-Zeiten hatte sie stets ihre Tante aus Westberlin gepiesackt und nach dem neuen Quelle-Katalog gefragt. Mit einzelnen Seiten als Vorlage ging sie dann zur örtlichen Schneiderin. „Quelle war für mich der Westen, das Unerreichbare“, erinnert sie sich. Dass so ein Symbol einmal ganz verschwindet, ist für sie bis heute schwer verständlich.

Zwar wusste man, dass es nicht gut läuft, doch ein so schnelles Ende hat in Leipzig kaum jemand für möglich gehalten. Stets, erzählen Mitarbeiter, sei man vertröstet worden und hätte einfach weitergearbeitet: im Juni, als die Insolvenz verkündet wird; im September, als die ersten Kündigungen kommen und der Insolvenzverwalter von mehreren Investoren spricht; selbst im Oktober, als die Medien vom endgültigen Aus berichten, Leipzig aber noch für den Ausverkauf gebraucht wird. Auch heute wissen die meisten Mitarbeiter nicht, wann nun endgültig Schluss ist. „Dieses langsame Ende zehrt an uns“, bekennt Räuscher.

Wie die meisten Kollegen hat sie sich bereits bei der Bundesagentur für Arbeit registriert. Ihre Chancen stehen noch recht gut, weil sie notfalls bereit wäre, die Region zu verlassen, und weil sie jünger als 50 Jahre ist. Die „magische Grenze“ nennt das die Arbeitsagentur.

Dieter Vollrath hat sie bereits überschritten. Der 57-Jährige arbeitet am Warenausgang. Seit 14 Jahren räumt und stapelt er Pakete, auch für ihn sind es die letzten Tage. „Seit Monaten sagt einem keiner, wie lange es noch geht“, empört sich der hagere Mann mit schütterem Haar. Dass es nicht mehr lange sein kann, merkt er deutlich. Früher musste sich im Weihnachtsgeschäft einer allein um jedes Fließband kümmern, heute versorgt Vollrath vier Bänder gleichzeitig. Wenn die letzte Bestellung abgeholt ist, wird er seine eigenen Sachen packen. Was dann kommt, weiß er nicht. Auch Silvia Schmelzer hat nichts in Aussicht. „So einen Arbeitsplatz wie bei Quelle“, sagt sie traurig, „werde ich nie wieder finden.“

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