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Wirtschaft: Lilo Gaudszun

(Geb. 1932)||Ihre Mission: Die Heilkraft der Natur und die Ehre der Hexen.

Ihre Mission: Die Heilkraft der Natur und die Ehre der Hexen. Das mit dem Fernsehen war Pfarrer Flieges Schuld. Der holte Lilo Gaudszun als Erster in seine Sendung. Sie war anfangs ein bisschen aufgeregt, aber dann war alles ganz einfach. Sie wusste ja auf jede Frage eine Antwort. Wieso zum Beispiel manche Pflanzen bei Vollmond gepflückt werden, und warum sie dann den höchsten Kieselsäuregehalt haben.

Später ließ sie sich regelmäßig vom Norddeutschen Rundfunk in ihrer Küche filmen, wie sie dort Haarwasser aus Klette und Meerrettich oder Beinwell-Salbe aus Bienenwachs und Mandelöl herstellte. Fernsehgerecht erklärte sie jeden Handgriff, und wenn sie im Garten für die Kamera einen Ackerschachtelhalm pflückte, sagte sie: „So, ich pflücke hier jetzt mal den Ackerschachtelhalm.“

Da war sie schon weit über sechzig. Ihr Herz hatte sie jedoch viel früher an die Pflanzen verloren. Zur Einschulung trug sie ein Blümchenkleid, als junges Mädchen porträtierte sie stundenlang Ebereschen, und in der Schulzeit mochte sie die Stunden am liebsten, in denen die Klasse im Botanischen Garten Blumen und Gewächse bestimmen musste.

Als ihre Mutter in den Hungerjahren aus Unkraut und Wald- und Wiesenpflanzen feine Speisen für die fünf Kinder zauberte, hat sie das sehr beeindruckt. In der Dannenberg-Kosmetikschule in Charlottenburg lernte sie, wie man mithilfe natürlicher Tinkturen, Elixieren und Cremes ein bleiches Nachkriegsgesicht in ein rosiges Damenantlitz verwandelt.

Dass die wahre Schönheit aber von innen kommt, wusste man in den Vereinigten Staaten bereits Ende der fünfziger Jahre. Lilo Gaudszun war mit ihrem Mann Arno nach Atlanta übergesiedelt, und lernte dort das ganzheitliche Beautykonzept kennen: Schönheit braucht viel Zeit und deshalb eine Farm. Dort wurden Kosmetikbehandlungen mit einem umfassenden Erholungsprogramm kombiniert. Dass der Mensch aus eigener Kraft gesund und schön sein kann, wenn er die Natur nur richtig nutzt, das war auch der Grundgedanke indianischer Medizin, die Lilo später in Florida studierte. Ihr Vertrauen in die Kräfte der Natur wurde unerschütterlich.

Aus den USA kam sie nach 28 Jahren zurück. Sie verbrachte jetzt die meiste Zeit im grünen Harz und begann ihre Laufbahn als Kräuterfee. Sie ließ sich zur Gesundheitsberaterin in Lahnstein ausbilden und verbrachte ein paar Monate in Indien, um die Geheimnisse des Ayurveda zu studieren. Auf Kräuterwanderungen führte sie energisch die Gruppen durch Wind und Wetter, schick im violetten Mantel, mit einer kleinen Schaufel in der Tasche, und erklärte die Wirkung von Spitzwegerich und Schachtelhalm. In der Lauterbacher Kräuterküche servierte sie Löwenzahn- Frühlingsgetränke und Rhabarber-Bananen-Dessert mit Gänseblümchen und Veilchen.

„Wenn wir die Pflanzen lieben, entfalten sie für uns ihre Zauberkräfte“, beteuerte sie. Damit auch andere das begriffen, gab sie Seminare, schrieb Artikel über Ernährung, dozierte an der Freien Universität. Auf ein erstes Heftlein über Frühlingskräuter für die Kurverwaltung und Apotheken folgten vier Bücher.

Ob sie denn beleidigt wäre, wenn man sie „Kräuterhexe“ nennen würde, wollte Pfarrer Fliege wissen. „Im Gegenteil!“, war Lilo Gaudszuns Antwort. Schließlich waren es doch die Hexen, die wegen ihres Wissens um die heilende Wirkung von Pflanzen auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Deren Ehre stelle sie jetzt sozusagen wieder her.

Das Hexenwissen hatte sie in ihrem Kopf und auf vielen Zetteln archiviert. Sie wollte es in einer Enzyklopädie strukturieren. Doch dafür blieb ihr keine Zeit. Auf ihre Nieren hatte sie immer geachtet, ein ganzes Buch hatte sie darüber geschrieben. Dass sie dann Leberkrebs bekommen würde – fassungslos war sie darüber jeden Tag der drei Wochen zwischen der Diagnose und dem Tod.

Veronika de Haas

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