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Brolis, Brüder: Dominykas, Augustinas und Kristijonas Vizbaras.

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Litauen: Zwischen Boom und Exodus

Kaum eine Volkswirtschaft in der Europäischen Union wächst so stark wie Litauen. Doch die Jugend verlässt das Land.

Es ist nicht zu übersehen. Kristijonas und Augustinas Vizbaras sind einander wie aus dem Gesicht geschnitten. Brolis, auf Deutsch: Brüder, haben die Zwillinge ihr Unternehmen am Stadtrand von Vilnius genannt. Die Geschäfte des Chip-Herstellers führt der dritte Bruder, Dominykas.

Die drei stehen mit ihrem Unternehmen für das neue Litauen: junge, bestens ausgebildete Leute mit Auslandserfahrung und dem Willen, etwas aus sich zu machen. Die Zwillinge, 28 Jahre alt, Physiker, haben in München ihren Doktor gemacht, ihr 32-jähriger Bruder Dominykas machte seinen Abschluss in Logistik- Management im belgischen Antwerpen.

Jetzt betrachten sie stolz das etwa drei Meter lange und mehr als zwei Meter hohe Wirrwarr aus Rohren und Zylindern. Mit Lasertechnik stellen sie Hochleistungschips etwa für die Autoindustrie oder Gasexploration her, pro Stück kosten sie 15 000 Euro. Diesen Monat liefert Brolis die ersten aus.

Dass die drei Jung-Unternehmer nach Litauen zurückgekehrt sind und ihr Glück nicht im Westen gesucht haben, hat einen Grund: Die Regierung hat sie gezielt gefördert. Denn ohne staatliche Unterstützung funktioniert das neue Litauen noch nicht.

Als die Brüder Vizbaras vor rund anderthalb Jahren anfingen, war dort, wo heute die Maschine steht, noch ein Acker, und den Gründern fehlten rund 3,5 Millionen Euro. Ein Jahr später hatten sie eine Million mehr als geplant eingeworben, im Dezember begann die Produktion. „Dieses hohe Tempo hätten wir anderswo kaum hinlegen können“, sagt Augustinas Vizbaras. Sie hätten sich genau überlegt, von wo aus sie ihre Firma aufbauen: USA, Deutschland, Irland oder Litauen. „In den USA bist du mit deiner Idee einer von 1000, du musst mehr um Investoren buhlen“, sagt Dominykas, der Älteste. Und in Deutschland täten sich Geldgeber oft schwer mit Risikokapital. „Wir wollten nicht den langsamen Weg über mehrere Investorenrunden.“

In Litauen hingegen könne man relativ unbeobachtet vom Rest der Welt etwas aufbauen. Das Geschäftsklima sei gut, die Infrastruktur professionell. Es gebe ausreichend Risikokapital. Anders als in Deutschland und in den USA stammt das Kapital in Litauen aber nicht überwiegend aus privaten Venture-Capital-Fonds, Private Equity oder Pensionskassen. Aktuell stellt der Staat für Ideen wie die der drei Brüder knapp 75 Millionen Euro an Risikokapital bereit. Im kommenden Jahr soll das Volumen auf bis zu 125 Millionen Euro wachsen. Der größte Teil davon fließt aus Fördertöpfen der EU, sagt Rolandas Krišciunas, der drei Jahre stellvertretender Finanzminister war und seit 2012 die baltische Republik als stellvertretender Außenminister vertritt. „Die EU-Strukturfonds sind für uns sehr wichtig“, betont er.

Die EU-Hilfen beschleunigen die Modernisierung der litauischen Wirtschaft. Mit rund 15 Unternehmen und zwei Forschungsinstituten hat sich rund um Vilnius zum Beispiel ein Laser-Optik-Cluster entwickelt. Zwischen 400 und 500 Menschen arbeiten dort. Die Einführung des Euro – für 2015 geplant – soll noch einmal mehr Schwung geben. So, wie bereits der Beitritt zur EU im Mai 2004 wie ein Katalysator auf die wirtschaftliche Entwicklung im südlichsten der baltischen Staaten wirkte – bis die Krise kam.

Die Zahl der Auswanderer nimmt ab, die der Rückkehrer zu.

Brolis, auf Deutsch: Brüder, haben Dominykas, Augustinas und Kristijonas Vizbaras ihr Unternehmen am Stadtrand von Vilnius genannt.
Brolis, auf Deutsch: Brüder, haben Dominykas, Augustinas und Kristijonas Vizbaras ihr Unternehmen am Stadtrand von Vilnius genannt.

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2009 brach das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um knapp 15 Prozent ein. Seither wächst die Wirtschaft wieder. Nach knapp sechs Prozent 2011 legte das BIP im abgelaufenen Jahr um rund drei Prozent zu. 2013 dürfte das Wachstum etwa ähnlich stark ausfallen. Damit zählt Litauens Volkswirtschaft nach Lettland zu den am stärksten wachsenden in der EU. Das Vorkrisenniveau ist zwar noch längst nicht wieder erreicht. Aber nicht alle sehen das als Nachteil. Natürlich sei es nach der Krise schwierig, sagt Arunas Bertasius, Statthalter von Rhenus, einem deutschen Logistikunternehmen. „Aber vor der Krise war es auch schwierig, weil wir ein irrsinniges Wachstum hatten.“ Zwischen sieben und zehn Prozent legte damals das BIP zu – jährlich. „Viel Wachstum, aber nicht mehr Gewinn“, bilanziert Bertasius knapp.

Litauen ist eine Drehscheibe auch für deutsche Unternehmen, die von hier aus ihre Waren nach Russland und in die GUS- Staaten verfrachten. Etwa 1200 deutsche Firmen sind nach Angaben des Auswärtigen Amtes in Litauen vertreten, darunter Industriekonzerne wie Eon und Siemens, Dienstleister wie Ergo und viele Logistikfirmen wie Schenker oder die Deutsche Post. Der Logistiksektor trägt rund zwölf Prozent (2011) zur Bruttowertschöpfung bei. Rund ein Drittel des litauischen Exports wandert nach Russland.

Straßen und Schienenwege werden ausgebaut. Und mit Klaipeda, der drittgrößten Stadt, hat Litauen einen wichtigen Hafen zur Ostsee – der nördlichste eisfreie Hafen Europas, wie man offiziell betont. Dort befindet sich eine von zwei Sonderwirtschaftszonen, mit denen die Regierung Investoren ins Land locken und junge Firmen unterstützen will. In den ersten sechs Jahren entfallen die Steuern, 70 Prozent der Investitionen trägt der Staat.

Trotz der Vielzahl deutscher Unternehmen bleibt das große Geld aus Deutschland aber bislang aus, bedauert Eimantas Kiudalas, Chef der Entwicklungsgesellschaft der Sonderwirtschaftszone. Und das, obwohl zehn Prozent aller Investitionen von hier kommen. Lediglich die USA engagieren sich stärker. „Von Deutschland aus ist Litauen ein bisschen versteckt. Da ist der große Elefant Polen und dahinter kommt die kleine Maus Litauen.“ Das sporne allerdings an. „Eine Maus muss schneller und effizienter sein.“

Der verstellte Blick mag eine Ursache für die Zurückhaltung deutscher Investoren sein. Eine andere liegt schlicht in der Größe der Bevölkerung. Bei rund drei Millionen Einwohnern – also weniger als Berlin – ist es kaum möglich, einen deutschen Großkonzern etwa von der Notwendigkeit eines neuen Autowerkes in Litauen zu überzeugen. Zwar sind die Lohnstückkosten gesunken und die Qualität der Produkte ist hoch, wie deutsche Unternehmen bestätigen. Die Zahl der Facharbeiter ist aber zu gering, um Fabriken mit hohem Ausstoß und mehreren tausend Beschäftigten hochziehen zu können.

Dass Industriearbeiter fehlen, liegt auch an der Bildungspolitik. Mit 47 Prozent ist die Quote der Hochschulabsolventen unter den 24- bis 29-Jährigen EU-weit Spitze. Aber viele von ihnen arbeiten nicht in Litauen. Seit dem Ende der Sowjetunion verliert das Land Einwohner, unter anderem, weil es die Jugend ins Ausland zieht. In die skandinavischen Länder, nach England, in die USA oder nach Deutschland. Nur wenige finden nach ihrer Ausbildung den Weg zurück.

Eine Ausnahme sind die Zwillinge Vizbaras von Brolis Semiconductors. Vielleicht deutet ihr Beispiel aber auch auf eine Trendwende hin. Nach der weltweiten Finanzkrise schnellte die Zahl der Auswanderer zunächst auf bis zu 90 000 im Jahr hoch. Die Zahl derer, die einwanderten oder zurückkehrten, lag in den vergangenen zehn Jahren stets unterhalb von 10 000. Doch jetzt scheint die Flucht gestoppt: Für das laufende Jahr rechnen litauische Ökonomen nur noch mit einer Lücke von 20 000. Die Zahl der Auswanderer nimmt ab, die der Rückkehrer zu.

Für Wirtschaftsministerin Birute Vesaite ist das ein Erfolg der Politik, auch wenn die Sozialdemokratin selbst erst seit Ende 2012 im Amt ist. „Viele unserer jungen Leute arbeiten in Deutschland, England oder Skandinavien – die wollen wir natürlich wiederhaben.“ Hospitanz- Programme, mit denen junge Litauer für ein Jahr zu Regierungsberatern werden, Niedrigsteuersätze und Risikokapital vom Staat zeigen Wirkung. Offenbar denken viele junge Litauer wie Augustinas Vizbaras: „Wenn man die Chance hat, ist es zu Hause dann doch am einfachsten, ein Unternehmen zu gründen.“

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