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Wirtschaft: Luca Zehnle

(Geb. 1995)||Sie bleibt, wie sie war. Für immer zehn.

Von David Ensikat

Sie bleibt, wie sie war. Für immer zehn. Wo ist sie jetzt? Ist sie weg? Das kann ja gar nicht sein.

Man sagt doch, dass die Toten immer da sind, wo man an sie denkt. Man tut so, als sei das ein Trost. Denkt auch mal jemand daran, wie es den Toten dabei gehen könnte? Wenn jetzt jemand an Luca denkt, dann ist er traurig, vor allem traurig. Das kann man ihr doch nicht zumuten, immer diese Trübsal. Luca und Trübsal, das passt ja gar nicht.

Tanja Zehnle, Lucas Mutter, denkt sich solche Sachen. Und über die Gedanken denkt sie nach. Immer wieder. Immer noch. Vor einem Jahr ist Luca gestorben. Schlimm wäre, wenn es keine Gedanken mehr an sie gäbe.

Zuerst ist Tanjas Großmutter gestorben, die war alt. Ein Jahr darauf starb Tanjas Mutter, die war krank. Ein paar Monate später starb der Vater, der war nach dem Tod der Mutter einsam. Auf der Rückfahrt von der Beerdigung des Vaters, vom Schwarzwald nach Berlin, saß Luca, Tanjas Tochter, im Auto ihres Onkels, Tanjas Bruder. Er schlief am Steuer ein, das Auto raste in einen Lkw. Luca war zehn.

Kein Grund.

Kein Trost.

Ein Jahr lang hat Tanja nach Grund und Trost gesucht. Hat geredet, bis die Freunde nur noch schwiegen. Ist zu einem Sterbeforscher gegangen, der ihr sagte, dass das alles mit ihr nicht viel zu tun habe, das sei neben ihr her geschehen, ohne Zutun. Sie ist in eine Gesprächsgruppe gegangen, in der sich Eltern treffen, deren Kinder gestorben sind. Da waren welche, bei denen lag das schon acht Jahre zurück, und sie erzählten davon, als sei es gestern gewesen.

Das kann also auch nicht helfen, dachte Tanja.

Da hilft gar nichts. Vielleicht die Zeit, das Immerweiter.

Darauf hofft Tanja, und davor hat sie Angst. Manchmal wacht sie auf und denkt sich: Scheiße, jetzt hab’ ich zwei Wochen nicht an sie gedacht.

Sie hat nichts von Lucas Sachen weggeworfen. Bisher. Sie ist umgezogen mit ihren anderen beiden Kindern, denen, die ihr bleiben, und in der neuen Wohnung gibt es ein Zimmer, da würde Luca jetzt drin wohnen. Da steht ein Hochbett, auf dem niemand schläft. Ein paar Kartons liegen oben. In einem befinden sich Lucas Bravo-Poster, Tokyo Hotel, Juli, Jeanette Biedermann. Die Tesastreifen sind noch dran, ein großes, verklebtes Teenagerheldenknäuel, außer Gebrauch.

War Luca überhaupt schon Teenager oder noch Kind? Sie konnte die Lieder alle mitsingen, „Ich will doch nur spielen / Ich tu doch nichts. / Dass du nicht mehr schläfst, weil es dich erregt / wenn ich mich beweg’ wie ich mich beweg’ …“ Luca sang die Lieder mit, und malte dabei bunte Muster und braune Pferde.

Die Bilder sind in einem anderen Karton. Darin liegt auch noch eine Geschichte von Luca, „Das Wildpferd in Gefahr“. Runde, aufrechte Buchstaben, exakt entlang der Papierlinien: „Eines Tages sah Luna ein Pferd im Wald. Es war ganz schwarz. Sie lief langsam auf das Pferd zu und sagte: ,Ganz ruich. Du siehst hungrig aus.’“

Und Listen liegen im Karton, die zehn Lieblingspopgruppen, die besten Pferdenamen. Und zwei Karten für ein Silbermond-Konzert, die ihr Tanja geschenkt hat. Es wäre Lucas erstes Konzert gewesen. Es fand ohne Luca statt.

Wie lange hebt man solche Sachen auf? Die in den Kartons – für immer. Die sind nicht schwer. Die Anziehsachen – wer weiß? Aus den Reitstiefeln wäre Luca vielleicht schon rausgewachsen. Dann hätte man sie weggegeben.

Es kommen sogar noch Sachen dazu: Tanja besorgt sich die Musik, die Luca jetzt hören würde, die neuen Lieder ihrer Helden. Tanja mag die seichte Jungeleutemusik nicht besonders, aber Luca hat sie doch gemocht.

Es ist merkwürdig: Ein Mensch geht fort, und weil er fortgeht, bleibt er, wie er war. Er verändert sich nicht mehr. Lucas beste Freundin, Xenia, ist die Tochter von Tanjas bester Freundin. Tanja wird Xenia immer wieder sehen, und sie wird sehen, wie sie älter wird. Xenia wird erwachsen, wird andere Musik hören, wird sich verlieben, vielleicht mal Kinder kriegen. Luca bleibt zehn Jahre alt. Für immer.

Ihre Fotos an der Wand werden dieselben bleiben. Die der Geschwister werden ausgetauscht, da wird es immer wieder neue geben.

Tanja erzählt von ihrer Tochter, wie hibbelig die war, wie schwer es war, ihr bei den Matheaufgaben zu helfen, wie sie den Vater in Schutz nahm, wenn Tanja sich über dessen Unzuverlässigkeit ärgerte, wie gut sie mit ihrem Handy umgehen konnte, wie sie zu spät aus der Schwimmhalle zurückkam. „Luca war wie ich“, sagt Tanja.

Und sie sagt: „Die Trauer überfällt mich immer wieder, einfach so. Wie aus heiterem Himmel . Aber die Abstände werden größer. Ist das nicht schlimm?“

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