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Wirtschaft: Mehr Geld im Alter

Die gesetzliche Pflegeversicherung wird überarbeitet: Pflegebedürftige sollen mehr bekommen, Kinderlose dagegen stärker belastet werden

REFORMCHECK, TEIL FÜNF: DIE PFLEGEVERSICHERUNG

Acht Jahre nach ihrer Einführung wird die Pflegeversicherung überarbeitet. Im kommenden Frühjahr will Rot-Grün Veränderungen in den Bundestag einbringen, die 2005 in Kraft treten sollen. „Ziel der Reform ist es, die ambulante Pflege zu stärken, die Leistungen zu dynamisieren und die Versorgung Demenzkranker zu verbessern“, sagte Sozialministerin Ulla Schmidt (SPD) dem Tagesspiegel. Eine Arbeitsgruppe der Koalition feilt derzeit an den Details der Reform. Nach bisherigem Zeitplan soll schon im April das Gesetzespaket verabschiedet sein. Im Prinzip benötigt Rot-Grün dafür auch nicht die Zustimmung des unions-dominierten Bundesrats.

Im Jahr 1995 hatte der damalige Arbeitsminister Norbert Blüm (CDU) die gesetzliche Pflegeversicherung als fünfte Säule der Sozialversicherung geschaffen. Inzwischen erhalten nach Angaben des Sozialministeriums knapp zwei Millionen Menschen Leistungen aus der Pflegekasse. Doch die Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben wird mit jedem Jahr größer, im Jahr 2003 werden die Pflegekassen ein Defizit von rund 400 Millionen Euro machen. Derzeit können die Ausgaben noch aus der Rücklage gespeist werden, die Blüm damals beim Start aufgebaut hatte.

Immer mehr Pflegefälle

Die steigende Zahl von Pflegebedürftigen in den kommenden Jahrzehnten erzwingt Reformen. Prognosen sagen, dass bis 2050 die Zahl der Pflegebedürftigen auf bis zu sechs Millionen Menschen steigen könne. Schon 2010 wird der Anstieg der Anzahl älterer Menschen deutlich spürbar. Waren im Jahr 2000 noch rund zwei Millionen Personen über 60 Jahre alt, werden es im Jahr 2010 schon 21 Millionen sein. Bisher konnte der Beitrag zur Pflegeversicherung konstant bei 1,7 Prozent gehalten werden, aber die Rücklage wird nach Prognosen des Ministeriums in den kommenden Jahren schrittweise aufgebraucht. Deutliche Beitragserhöhungen wären aber auch problematisch, da sie die Arbeitskosten erhöhen würden – angesichts der hohen Lohnnebenkosten ist das zumindest kurzfristig ausgeschlossen.

Ein Gesetzentwurf für die Reform der Pflegeversicherung liegt noch nicht vor, aber einige konkrete Neuregelungen sind schon jetzt absehbar. Die Vorarbeiten der Koalitionsarbeitsgruppe sind bereits zu großen Teilen abgeschlossen.

Beitragszuschlag: Wer kein Kind erzieht, soll künftig einen Beitragszuschlag zahlen. Damit folgt die Bundesregierung den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts. Das hatte in einem Urteil gefordert, Kinder erziehende Mitglieder der gesetzlichen Pflegeversicherung sollten gegenüber denen ohne Kinder beitragsmäßig bevorzugt werden. Rot-Grün hat sich für einen Zuschlag entschieden, nicht für eine Beitragsermäßigung. Sozialministerin Schmidt rechtfertigt dies damit, dass in einer alternden Gesellschaft die Mittel für die Pflegeversicherung benötigt würden. Deshalb gebe es keinen Spielraum, um Entlastungen bei den Beiträgen zu finanzieren. Dafür sollen Familien, die Kindergeld beziehen, vom künftig zu erhebenden Zuschlag befreit werden. Für die Ausgestaltung des Zuschlags sind zwei Varianten im Gespräch: Entweder der Beitrag orientiert sich am Einkommen und beträgt voraussichtlich zwischen 1,50 und 3,50 Euro im Monat. Nachgedacht wird aber auch über einen pauschalen Beitrag in Höhe von etwa 2,50 Euro. „Eine einheitliche Pauschale verursacht weniger Verwaltungsaufwand“, sagt die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Gudrun Schaich-Walch. Bei der Summe, die im Gespräch sei, müsse man sich nicht unbedingt am Einkommen orientieren. Auch die Grünen halten dieses Verfahren für unbürokratischer.

Dynamisierung: Spätestens 2007 will Rot-Grün die Leistungen dynamisieren, also erhöhen – wenn möglich auch schon früher. „Die Ausweitung soll so früh und so hoch wie möglich ausfallen“, fordert die pflegepolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, Petra Selg. Notwendig werde das, weil in den vergangenen Jahren die Kaufkraftverluste nicht mehr ausgeglichen worden seien. Seit ihrer Einführung im Jahr 1995 sind die Leistungen damit real entwertet worden. Viele Pflegebedürftige in den Heimen sind damit auch weiterhin auf zusätzliche Sozialhilfe angewiesen. Eigentlich sollte aber genau dies vermieden werden. In welchem Umfang die Leistungen dynamisiert werden sollen, wird derzeit noch berechnet. Das Sozialministerium rechnet nach Informationen des Tagesspiegels derzeit mit einer Steigerung von jährlich 1,7 Prozent ab dem Jahr 2007. Im Gespräch sind aber auch höhere Anpassungen.

Demenz: Wer unter Altersverwirrung leidet, soll künftig besser betreut werden. Rot-Grün sieht einen pauschalen Zeitzuschlag von 30 Minuten täglich vor, der bei der Begutachtung der Pflegebedürftigkeit und der Zuordnung zu den Pflegestufen berücksichtigt wird. Bis zu 60 000 Altersverwirrte dürften damit erstmals Leistungen aus der Pflegeversicherung erhalten. Das Sozialministerium rechnet damit, dass eine noch größere Zahl von Pflegebedürftigen in eine höhere Pflegestufe eingestuft werden könnte.

Ambulant vor stationär: Die ambulante (häusliche) Pflege soll deutlich aufgewertet werden. Der Trend, dass Familien ihre Angehörigen ungern zu Hause versorgen, ist teuer. Die Zahl der stationären Pflegefälle steigt, derzeit sind es rund 630 000 Personen. Rund 1,37 Millionen Menschen werden dagegen ambulant versorgt. Um die ambulante Pflege zu fördern, soll finanziell umgeschichtet werden. Die Pflegesätze sollen denen der Heimpflege angeglichen werden. In den beiden unteren Pflegestufen sollen dabei nach Plänen des Sozialministeriums die Mittel für die Heimpflege gekürzt werden, um die häusliche Pflege insgesamt finanziell aufwerten zu können. Die Kürzungen in den unteren Pflegestufen der Heimpflege sollen jedoch nur für neue Pflegefälle gelten. „Für alle anderen wird es einen Bestandsschutz geben“, erläutert die Grünen-Expertin Selg.

Betreute Wohngemeinschaften: In der häuslichen Pflege sollen neue Wohnformen gefördert werden. Dafür soll es eine Art Experimentierklausel geben, kündigte die SPD-Politikerin Gudrun Schaich-Walch an. Als Beispiel nannte sie betreute Wohngemeinschaften für Pflegebedürftige.

Demografiereserve: Wie die Pflegeversicherung auch auf längere Sicht zukunftsfester gemacht werden kann, soll bis 2010 entschieden werden. „Ab 2010 wird es eine Demografiereserve geben“, sagt die Grünen–Politikerin Selg. Dafür müssten verschiedene Optionen geprüft werden: von einer Lösung innerhalb des Systems der gesetzlichen Pflegeversicherung bis hin zu einer rein kapitalgedeckten Zusatzversicherung.

Von einer Idee der Rürup-Kommission zur Reform der Sozialsysteme hat sich Rot-Grün jedoch verabschiedet: Der Sozialexperte Bert Rürup hatte vorgeschlagen, den Rentnern einen Solidarzuschlag abzuverlangen, um einen Kapitalstock für die Jüngeren aufzubauen. Das hatte die Koalition nach den jüngsten Rentenbeschlüssen jedoch verworfen mit der Begründung, dass die Rentner schon genügend zur Stabilisierung der Rentenkassen herangezogen würden.

Absehbar ist jedoch, dass die jüngere Generation stärker für die Pflegebedürftigkeit im Alter vorsorgen muss: „Wir müssen den Menschen klarmachen, dass sie langfristig zusätzlich privat vorsorgen sollten“, sagt Selg. „Die Pflegeversicherung ist keine Vollversicherung wie die gesetzliche Krankenversicherung“, stellt auch die Sozialpolitikerin Schaich-Walch klar. Von einem Zwang zur privaten Vorsorge halte sie jedoch nichts. Jeder müsse selbst die Entscheidung treffen, ob er eine private Pflegezusatzversicherung abschließen wolle. Vielmehr müsse man darauf achten, dass die Qualität der angebotenen Versicherungsprodukte gut sei.

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