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Wirtschaft: Milliarden von Millionen

Brille, Pille, Zahnersatz, Klinik – für die Versicherten wird ihre Gesundheit immer teurer. Bei SPD und Patientenverbänden regt sich Unmut gegen neue Lasten

DIE GESUNDHEITSREFORM – WAS AUF DIE PATIENTEN ZUKOMMT

Von Carsten Brönstrup

und Cordula Eubel

Wochenlang hatten sie verhandelt und geschwitzt, in der letzten Nacht vor der Einigung sogar mehr als 30 Stunden lang – Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) und Horst Seehofer, ihr Gegenpart von der Union. Doch trotz aller Mühe der Emissäre erntet die Reform, auf die sie sich geeinigt haben, großen Unmut. Vor allem an der Belastung für die knapp 71 Millionen gesetzlich Versicherten entzündet sich Kritik: Bereits 2004 müssen die Kassenkunden knapp zehn Milliarden Euro aus eigener Tasche für die Reform bezahlen, bis zum Jahr 2007 steigt die Belastung auf mehr als 23 Milliarden Euro an – hinzu kommt noch die Zwangsversicherung für den Zahnersatz, deren Beitrag die Versicherungsmathematiker derzeit noch berechnen. Ob und wann die Entlastungen durch geringere Kassenbeiträge kommen werden, ist dagegen unklar. Patientenverbände und linke Sozialdemokraten wollen sich deshalb die Belastungen nicht bieten lassen – und fordern Nachbesserungen im anstehenden Gesetzgebungsverfahren zugunsten der Versicherten.

Unmut gibt es vor allem über die hohen Zuzahlungen. Die Verlierer der Reform sind dadurch in erster Linie Rentner und Familien. „Ungerechtigkeiten und Härten, die viele nicht verkraften und die Leistung und Qualität des Gesundheitswesens nicht verbessern“, hat etwa Ekkehard Bahlo von der Deutschen Gesellschaft für Versicherte und Patienten (DGVP) ausgemacht. Auch der SPD-Experte Klaus Kirschner, Vorsitzender des Gesundheitsausschusses im Bundestag, findet die Belastung nicht richtig. „Hier muss noch nachgebessert werden“, verlangt er. Es sei unsinnig, dass bei Medikamenten und Hilfsmitteln mindestens fünf Euro aus eigener Tasche beigesteuert werden müssen. „Bei Stützstrümpfen für 15 Euro trägt der Patient so ein Drittel des Gesamtpreises – das ist zu viel“, schimpft Kirschner. Sein Kollege Peter Dreßen verlangt mehr Transparenz für die Patienten. „Die Ärzte müssen verpflichtet werden, nach jeder Behandlung eine Quittung auszustellen – sonst funktioniert das ganze System nicht“, sagte er.

Auch die Jusos sind mit dem Paket nicht einverstanden. „Sozial absolut unausgewogen“ findet es Niels Annen, der Chef der Jungsozialisten. Es müsse weitere Kompensationen für sozial Schwache geben. Annen kündigte an, Druck auf die Regierung zu machen. „Die Menschen lassen sich doch nicht für blöd verkaufen.“ Seine Organisation verlange, „dass die jetzigen Beschlüsse so nicht ins Gesetzblatt kommen“.

Die meisten Krankenkassen halten von erneuten Diskussionen indes nichts – sie sind froh über das wenige Erreichte und fürchten um die Zukunft des ganzen Beschlusspakets, sollte es nun erneut aufgeschnürt werden. Gebe es jetzt noch substanzielle Änderungen, „wäre der Kompromiss tot“, fürchtet Norbert Klusen, Chef der Techniker Krankenkasse. Er findet, es gebe in der Einigung „Elemente, die man nicht gering schätzen sollte“ und die zu Beitragssenkungen führen könnten. „Langfristig wird die Marke von 13 Prozent erreichbar sein.“ Deshalb, meint er, seien aber nun die Arbeitgeber in der Pflicht – schließlich sei die Senkung der Lohnnebenkosten eine der Triebfedern der Reform gewesen. „Die Unternehmen werden schon 2004 um zwei Milliarden Euro entlastet. Deshalb sind sie nun in der Pflicht, zu investieren und Arbeitsplätze zu schaffen. Das hilft auch den Sozialsystemen“, fordert Klusen. Immerhin zahlten schon heute die Firmen vom 136 Milliarden Euro schweren Beitragsaufkommen in der Krankenversicherung nur 47 Milliarden Euro – ein Drittel des Beitrages, den die Versicherten leisteten.

Die Spitzen der Regierung ficht die Kritik an ihrer Reform nicht an – Gesundheitsministerin Ulla Schmidt und Außenminister Joschka Fischer bereiten mit ihren Plänen für eine Bürgerversicherung sogar schon den nächsten Coup vor. Die Einbeziehung von Beamten, Politikern und Selbstständigen sowie der Kapitaleinkünfte aller in die gesetzliche Krankenversicherung soll das System auf Dauer stabilisieren, hoffen sie. Doch Wirtschaftsforscher halten die Bürgerversicherung für keine gute Idee. „Damit könnten kurzfristig hohe Erträge erzielt werden, die Kostenexplosion im Gesundheitswesen erhielte aber neuen Auftrieb“, befürchtet Charles B. Blankart, Ökonomieprofessor an der Berliner Humboldt-Universität. Die zusätzlichen Einnahmen würden mehr Wettbewerb unter den Ärzten und Krankenhäusern verhindern und neue, Kosten sparende Strukturen verhindern, warnt er. Zudem ließe sich das System dann kaum noch kontrollieren. „Letztlich dürfte daraus eine Art zusätzliche Einkommensteuer in schwer einschätzbarer Höhe entstehen, deren Verwendung kaum zu kontrollieren ist“, befindet Blankart.

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