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"Mit Muße die Zeit in der Galerie vertrödeln. Vieles von dem, was früher achtlos fortgeworfen worden wäre, findet heute in Trödelläden begeisterte Käufer. In der Kreuzberger Mariannenstraße ist der Ansturm der Interessenten noch nicht so groß." (Bildunterschrift vom 23. Juli 1980 im Tagesspiegel)

© TSP

Nachruf: Hugo Günter Lachmund, geb. 1940

Er trug Vollbart und Baskenmütze, und sie nannten ihn Che. Er fand, er müsse 101 Jahre alt werden. Mindestens. Ein Nachruf.

Kreuzberg, Mariannenstraße, ein Laden namens „Trödelgalerie“. Im Schaufenster spiegelt sich ein alter, runder VW-Bus, auf dem Fensterbrett stehen zwei Holzkisten mit Büchern. Auf das bröselnde Mauerwerk zwischen Schaufenster und Ladentür hat jemand eine Palme gemalt, in der Tür steht ein Umzugskarton, daneben sitzt ein bärtiger Mann mit Baskenmütze auf den Stufen. Die Beine in hochgekrempelten Jeans hat er übereinander geschlagen, versunken liest er Zeitung. Das Foto erschien am 23. Juli 1980 im Tagesspiegel: ein Kreuzberger Idyll, ein Zoo-Foto für die bürgerliche Leserschaft.

Der Mann mit der Baskenmütze, das war Hugo Günter Lachmund. Seine Freunde nannten ihn Che. Ein paar Jahre seines Lebens arbeitete er in dem Trödelladen, damals das einzige neue Geschäft in der Gegend. Aus SO 36 zog man weg, weil hier ein Autobahnkreuz hingebaut werden sollte.

Hugo Günter Lachmund stammte aus Thüringen, ließ sich in Wuppertal zum Bäcker ausbilden und fuhr in den sechziger Jahren als Schiffskoch zur See. In dieser Zeit kam ihm mal sein Ausweis abhanden. In Deutschland tauchte er wieder auf: in den Taschen eines überfahrenen Mannes, dessen Antlitz durch den Unfall nicht mehr zu erkennen war.

Er war Koch im besetzten Tommy-Weißbecker-Haus

Als Hugo Günter Lachmund von der Schiffstour zurückkehrte, erfuhr er, dass man Hugo Günter Lachmund gerade für tot erklärt hatte. Es war nicht einfach, die Behörden vom Gegenteil zu überzeugen. Seitdem schlug er vor, dass er nun, da er schon einmal gestorben sei, doch mindestens 101 Jahre alt werden müsse.

Irgendwann hat Che das Seemannsdasein in ein Germanistikstudium in Freiburg eingetauscht. Sein Magister-Zeugnis hat er nie abgeholt. „Ich hab noch einen Koffer dort“, sagte er später immer. „Da ist es drin.“

Im Münsterland gehörte er zu den Gründern einer Bangladesch-Hilfsorganisation (die wohl eher ein Jugendtreff für Freunde von Hasch und LSD war, Nachtrag der Red.), und wenn bis dahin aus Hugo Günter nicht längst Che geworden war, dann wohl spätestens mit der Ankunft in Berlin.

In den Siebzigern war er Koch im besetzten Tommy-Weißbecker-Haus in der Kreuzberger Wilhelmstraße, und in den Siebzigern geschah es auch, dass er seinen Freund Wolfgang kennenlernte. Im Wald war das, im Spandauer Forst. Sie errichteten dort ein Hüttendorf, um gegen den Bau eines großen Kohlekraftwerks zu protestieren. Als Wolfgang ihn zum ersten Mal traf, gestikulierte und schimpfte Che wie wild. Einen ersichtlichen Grund dafür gab es nicht. Es war einer dieser Anfälle. Hin und wieder geriet Che in schizophrene Zustände, er redete mit Leuten, die es nur in seiner Vorstellung gab, und es kam auch vor, dass er nicht wusste, wo er war. Zum Glück gab es meistens Leute wie Wolfgang, Leute, die auf Che Acht gaben.

Vor Behördenfluren hatte er Horror

Che hatte beschlossen, nie mehr auf Steuerkarte zu arbeiten, und er blieb auch dabei, als es den Trödelladen in der Mariannenstraße nicht mehr gab – den hatte er mit Wolfgang zusammen betrieben. Er kam irgendwie durch in all den Jahren, denn er brauchte nicht viel.

Lange Zeit lebte er von der Sozialhilfe, das Sozialamt hatte ihm auch seine letzte Wohnung zugewiesen. Als das Amt nun einen Rentenbescheid forderte, überforderte es damit Che, der einen Horror vor den langen Behördenfluren hatte. Den Antrag bekam er nicht hin, das Sozialamt stellte die Unterstützung ein, und Che verlor seine Wohnung. Er kam zwar bei Freunden unter und blieb mit dem Alltäglichen versorgt, nicht aber mit den lebenswichtigen Pillen. Seit einer Embolie brauchte Che ein teures Blutverdünnungsmedikament. Ohne Sozialhilfe hatte er aber auch keine Krankenversicherung mehr.

Im Frühling verlor Che auf einer Parkbank das Bewusstsein. Der Arzt sagte, es sei sehr ungewöhnlich, dass er immerhin vier Monate lang ohne das Medikament überlebt hatte. Polizisten warfen Ches Umhängetasche in den Müll. Wegen des „Ungezieferbefalls“, wie sie sagten. Alles, was Wolfgang schließlich ausgehändigt wurde, passte in einen Briefumschlag.

Zur Beerdigung kamen achtzig Gäste. Sie hörten Blues, unterhielten sich angeregt und kippten hin und wieder einen Schluck Havanna Club ins Grab. Den Rum hat Che gerne getrunken, und er passte ja auch so gut zu seinem Namen.

Im Franziskaner in der Dresdner Straße, schräg gegenüber vom Würgeengel, da war Che Stammgast. Jetzt steht auf dem Tresen eine Sammelbüchse: Auf Ches Grab fehlt noch die Grabplatte.

Martin Klein

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